In den kommenden Jahren werden sie den Ton vorgeben, die Ego-Shooter Trump, Musk und Konsorten. Dabei sind sie zwar besonders laut und mächtig, aber nicht die Einzigen: Im seit Jahrzehnten vorherrschenden Neoliberalismus zählen nicht mehr Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern nur noch die Einzelnen. Woher kommt das? Und wohin führt das?
Die Organisation der Welt in der ungefähr seit vierzig Jahren herrschenden Form des wirtschaftlichen Neoliberalismus wird schon lange nicht mehr von der politischen Linken und natürlich schon gar nicht von den konservativen und reaktionären politischen Kräften (nicht nur) im sogenannten Westen der Welt in Frage gestellt. Um so erstaunlicher, da es sich um eine von der Ökonomie bestimmte Lebensform handelt. Das ist in dieser Ausschließlichkeit ein in der Geschichte der Menschheit bislang unbekanntes Phänomen.
Die Bilanz der Folgen für die Menschheit und die Welt ist alles in allem mehr als desaströs. Die Akkumulation von Reichtum ist in den vergangenen Jahrzehnten exponentiell gestiegen. Er kommt indessen einer winzigen Minderheit zugute, während die Armut überall auf dem Globus, wenn auch recht unterschiedlich im wohlhabenden Westen und im armen „Süden“ trotz Reichtumstransfer und technischem und medizinischem Fortschritt, immer weiter zugenommen hat. Kurzum: die (wenigen) Reichen sind reicher, die Masse der Armen ist immer ärmer geworden.
Und da ist noch der Zustand unseres Planeten. Immer mehr Katastrophen, von abwechselnder Trockenheit und verheerenden Überschwemmungen, verursacht durch die Erwärmung der Atmosphäre und der Meere. Von Menschen gemacht. Es gibt (unbestritten zaghafte und ungenügende) Maßnahmen, die Erderwärmung zu bekämpfen und einzudämmen. Trotz teils illegaler, teils genehmigter Abholzung der Regenwälder, steigender Förderung von Erdöl, dem Schürfen seltener Erden (etwa für die Herstellung von Handys, die nach kurzer Gebrauchszeit entsorgt werden und für nicht abbaufähigem Industrieschrott sorgen, der die Umwelt weiter verpestet).
Ignorante Dreistigkeit
Und der Umweltschutz hat es in Deutschland und der Schweiz zur Zeit schwer (in den lateinischen Ländern wie Frankreich oder Italien hatte er es nie leicht). Die Menschen haben andere Sorgen: die Kriege im Nahen Osten und der Ukraine, die hohe Inflation, steigende Preise, die Angst, in die Armut abzudriften und das berechtigte Misstrauen gegenüber den Regierenden jedwelder Couleur von Sozialdemokraten über Konservative bis zu den Rechtsaußenparteien (linke Parteien wie früher einmal gibt es nicht mehr).
Nicht genug damit. Ein Prominenter wie der US-amerikanische Multimilliardär Elon Musk, ein Kotzbrocken der besonderen Art, empfiehlt den Deutschen, AfD zu wählen. Erstaunlich (außer für ihn selbst) ist die Dreistigkeit, Staaten jenseits der USA Empfehlungen zu erteilen. Das scheint das neue ungeschminkte Selbstverständnis der Trump-Regierung zu sein, die ja selbst den Panama-Kanal und ganz Grönland für die USA beansprucht. Und dann legt Musk noch eine Schippe drauf und empfiehlt Bundeskanzler Olaf Scholz, endlich zurückzutreten. Da gesellt sich zur Unverschämtheit typisch amerikanische Ignoranz: Scholz hatte im Parlament längst die Vertrauensfrage gestellt, sie vorhersehbar verloren und damit de facto sein Amt aufgegeben.
In der neoliberalen Weltordnung kommt dem Individuum, dem beziehungsweise der einzelnen Bürger:in, eine radikal neue Rolle und Bestimmung zu: Sie allein sind für ihr Schicksal verantwortlich. Der „Wohlfahrtsstaat“ hat sich weitgehend verabschiedet; er ist allen gegenteiligen Behauptungen von neoliberalen Ökonomen (andere gibt es an den entscheidenden Schaltstellen nicht mehr) und konservativen Politikern auf ein Minimum reduziert. Das betrifft etwa Löhne, Sozialleistungen, medizinische Versorgung und mehr.
Explodierende Nachfrage
Seit 1993 gibt es in Deutschland sogenannte „Tafeln“, wo Bedürftige Mahlzeiten einnehmen und Essen mitnehmen können. Einkaufen für daheim können sie für drei Euro. Sie wurden im Jahr 1993 gegründet, als der Neoliberalismus seine Wirkung zu entfalten begann. Im vergangenen Jahr gab es bereits 975 Tafeln, die von 75.000 Helfer:innen betreut werden (von ihnen arbeiten 94 Prozent ehrenamtlich). Um zugelassen zu werden, benötigt man eine „Kundenkarte“, die von der Caritas oder dem Roten Kreuz ausgestellt wird.
Bezugsberechtigt ist in der Regel, wer armutsgefährdet ist. Das sind Einzelhaushalte mit einem Monatseinkommen von weniger als 1250 Euro oder Familien (zwei Erwachsene, zwei Kinder) mit weniger als 2600 Euro. Dazu kommen Rentner, die weniger als 900 Euro beziehen. In den letzten Jahren sind aber Löhne und Renten wegen der erheblichen Teuerung real gesunken. Mit den Jahren hat sich so eine Parallelökonomie entwickelt – ähnlich, nur nicht so kriminell, wie einst in der sogenannten Dritten Welt, wo es die offizielle und die Schattenökonomie gibt, die häufig die wichtigere ist.
2014 wurden die „Tafeln“ von 1,5 Millionen Bedürftigen genutzt, im Jahr 2022 (dem jüngsten Erhebungsjahr) waren es 2 Millionen (immerhin die Einwohnerzahl von Hamburg), die Dunkelziffer dürfte höher sein. Als Gründe für den Zuwachs nennen die Statistiker die Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine, weniger vernichtete Lebensmittel durch den Handel, der gleichzeitig die Preise erhöht.
Armut in der Schweiz
In Frankreich heissen die Tafeln „banques alimentaires“, in England „foodbanks“, und es gibt weit mehr davon als in Deutschland, was nicht verwundert, wenn man die prekäre finanzielle und medizinische Situation besonders im Norden Englands unter der letzten Tory-Regierung bedenkt.
Aber sogar in der reichen Schweiz gibt es Arme, die nicht nach Kantonen, sondern nach Regionen aufgeschlüsselt sind. Immerhin wurden 700.000 Arme registriert bei einer Bevölkerung von rund neun Millionen. Das sind 8,2 Prozent Prozent der Bevölkerung. Dagegen werden laut Statistik täglich 25 Tonnen einwandfreier Lebensmittel vernichtet. Also auch hier ein ganz ähnliches Bild.
Offenbar macht es keinen großen Unterschied, ob ein Land reich oder weniger reich ist. Entscheidend ist vielmehr der Einfluss der neoliberalen Ökonomie. Die unteren Einkommensschichten trifft es am härtesten, je höher man in der Lohn- oder Verdienstskala steigt, desto weniger hat man zu befürchten.
Erst seit der Französischen Revolution
Der einzelne Mensch ist, seit die neoliberale Ökonomie die Welt beherrscht, also seit die „Chicago Boys“ im Chile der Militärregierung unter Augusto Pinochet in den siebziger Jahre die neue Wirtschaftslehre ausprobieren und mit ihr experimentieren durften, auf sich alleine gestellt. Er hat bestenfalls seine Familie oder Freund und Freundinnen zur Seite, um seine materielle Existenz zu sichern. Es sei denn, er gehört zu den Wohlhabenden, die sich private Versicherungen aller Art leisten können. Interessant, wie sich der Begriff des Privaten ebenfalls verstärkt in die Sphäre des Ökonomischen verschoben hat.
Die Emanzipation des Individuums gegenüber der Sippe, dem Clan, dem Familienverbund oder der Berufszunft ist historisch noch nicht sehr alt. Sie nimmt ihren Anfang in der französischen Revolution. Im vorrevolutionären Ancien Régime waren die Stände gestaffelt: Erstens der Klerus (Bischöfe, Äbte, hohe und niedrige Geistliche), zweitens der Adel (Herzöge, Barone, etc.), drittens die Bürger (reiche Kaufleute, Kleinbürger, Bauern). Die Stände wurden vom König einberufen, was aber vor der Revolution 160 Jahre lang nicht mehr passiert war.
Der erste Stand machte etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung aus, der zweite (alle Kleriker bis hinunter zum Dorfpfarrer) 1,5 Prozent. Mit der Revolution erreichte der dritte Stand die Gleichstellung, allerdings nur der Reichen, also der Bourgeoisie. Das Proletariat blieb ausgeschlossen und sollte das in ganz Europa noch lange bleiben.
Späte Bürgerrechte in Deutschland
In den deutschen, von absoluten Herrschern regierten (Klein-)Staaten blieb bis zur Revolution von 1848 noch alles beim Alten. Die Fürsten bestimmten wie etwa in Frankreich unter dem Ancien Régime über vieles im Privatleben ihrer Untertanen: Welcher Konfession sie anzugehören hatten, welche Berufe sie ausüben durften. Der vergleichsweise liberale Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, Goethes Dienstherr, entschied etwa darüber, wen man heiraten durfte und wen nicht.
An der Universität im benachbarten Jena lehrte unter anderen (Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel) der Philosoph des deutschen Idealismus Johann Gottlieb Fichte, der sich eingehend mit dem Ich (und dem Nicht-Ich) beschäftigte in der Absicht, ihm persönliche Freiheit zu verschaffen. Er hatte grossen Zulauf an Studenten aus ganz Europa. Allerdings fehlte seinen Theorien – anders als in Frankreich ein explizit politischer Aspekt; der hätte ihm im immer noch vorherrschenden Absolutismus der deutschen Staaten wohl bald den Garaus gemacht.
Persönliche Bürgerrechte werden in Deutschland erst spät errungen. Nicht durch die gescheiterte Revolution von 1848, nicht in der gescheiterten Revolution von 1918 (Revolutionen sind in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich immer gescheitert). Das gelingt erst in der Weimarer Republik (die 1933 durch die völkische Revolution der Nazis endet). Aber das Proletariat und die unteren Bevölkerungsschichten profitieren materiell kaum davon.
Selbstdarstellung im Vorwort
Aber das Individuum, das „Ich“, entwickelt sich in der vom Neoliberalismus geprägten Weltordnung nicht immer in eine positive Richtung. Und zu einem guten Teil liegt das wieder am ökonomischem System. Da ist etwa der schon einmal zitierte Elon Musk. Als nicht gewähltes Mitglied von Donald Trumps Regierung, die in den nächsten Tagen die Regierungsgeschäfte in den USA übernimmt, bestimmt er selbstherrlich über Personen und politische Geschäfte und mischt sich in Angelegenheiten etwa ausländischer Staaten und internationaler Organisationen ein. Das ist die Macht eines Individuums in einem politisch zunehmend autokratischen System, das sich demjenigen Russlands immer mehr annähert.
Und dann gibt es noch die Bestsellerautorin Andrea Wulf mit ihrem Buch „Fabelhafte Rebellen“* über die Frühromantiker in Jena und Weimar, also Novalis, Goethe (der kein Romantiker, sondern ein Klassiker war wie Friedrich Schiller), oder Christoph Martin Wieland (einem Vorklassiker).
Feuilletonkritiker werfen ihr mangelhafte Beherrschung des Stoffs und eine plakativ oberflächliche und unangemessene Sprache vor. Sie ist eben keine Literaturwissenschaftlerin, sondern hat auch ein Buch über Gartenbau geschrieben. Vor allem hat sie ein Vorwort verfasst, das im Kontext des Individuums des „Ich“ bemerkenswert ist. Da breitet sie auf gut zwanzig oder mehr eng beschriebenen Seiten ihre Biographie aus, von den Eltern über Kindheit und Jugend bis zu ihrer Bestsellerkarriere.
Was bitte hat das in einem über 500 Seiten starken Buch zu suchen? Früher waren akademische und journalistische Autoren am Ende eines Buchs sehr viel sparsamer mit ihrer Vita und der Aufzählung ihrer Publikationen. Noch ein (negatives) Beispiel, wie heutzutage im Neoliberalismus das „Ich“ bemüht ist, sich aufzuplustern, um wahrgenommen zu werden.
Das trifft auch für ein neueres Phänomen zu: Den (in der Mehrheit weiblichen) „Influencern“, die sich der neuen Plattformen und Streaming-Dienste bedienen und eine Mischung aus Business und weltanschaulicher Orientierung betreiben. Sie verkaufen Kosmetika und Mode, werben für Musikkanäle – und repräsentieren einen ebenso bemüht optimistischen wie angestrengten Lebensstil, der typisch für unsere Epoche des unterschwelligen Prekariats ist.
Text: Jochen Kelter
Illustration: Zusammenstellung von Bildern aus Wikipedia: pw
* Andrea Wulf: Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich. C. Bertelsmann, 2022, ca. 600 S.
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