Der Prophet der Geknechteten
Bereits mit sechzehn schaufelte er als Heizer auf dem Führerstand eines Güterzugs Kohlen. Er kannte das harte Leben der Eisenbahnarbeiter, wusste, wie unfallträchtig die Jobs waren und wie miserabel die Löhne (die die Unternehmer zudem skrupellos weiter senkten, sobald sie ihre Profite in Gefahr sahen). Eine Richtung hatte seine Gesellschaftskritik damals noch nicht; er wusste nur, dass sich etwas ändern musste.
1855 in der Kleinstadt Terre Haute, Indiana, geboren, begann sich der Sohn elsässischer Einwanderer in der Gewerkschaft der Lokomotivheizer zu engagieren. Bald reiste er als deren Generalsekretär und Schatzmeister durchs Land, hielt begeisternde Reden, organisierte. Doch die zersplitterte Bewegung war zu schwach, um gegen die wachsende Macht der Eisenbahnmagnaten punkten zu können. Und auch der parlamentarische Weg erwies sich als Sackgasse: Eine Legislaturperiode lang saß er für die Demokratische Partei im Repräsentantenhaus von Indiana – bis er erkannte, dass sich dort einfach keine Gesetze gegen Unternehmerinteressen durchbringen ließen.
Und so gründete er 1893 die American Railway Union (ARU), die erstmals sämtliche Berufsgruppen der Eisenbahnbeschäftigen umfasste und sofort gewaltigen Zulauf hatte. Bereits ein Jahr später führte jedoch der Aufmarsch der US-Armee gegen Streikende der Pullman-Schlafwagen-Gesellschaft zu einer blutigen Niederlage; die Gewerkschaft löste sich auf, und ihr Gründer und Vorsitzender kam für sechs Monate hinter Gitter.
Dort hatte er nun Zeit zum Lesen, und in der Kapitalismuskritik von Karl Marx fand er endlich die schlüssigen Analysen für seine weitere Arbeit. Er rief die Sozialistische Partei Amerikas ins Leben und wurde einer der gefeiertsten Präsidentschaftskandidaten der USA. Fünfmal trat der freundliche Mann im Namen des Sozialismus an und vereinigte fast eine Million Stimmen auf sich. Seine letzte Kandidatur musste er 1920 aus dem Gefängnis heraus organisieren, da er für seine Kritik am Kriegsbeitritt der USA und für seinen Aufruf, den Wehrdienst zu verweigern, zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war.
Wie heißt der 1926 verstorbene Mitbegründer der militanten Gewerkschaft Industrial Workers of the World, der einmal sagte: „Solange es eine untere Klasse gibt, gehöre ich ihr an. Solange es Kriminelle gibt, bin ich einer von ihnen; und solange noch eine Menschenseele im Gefängnis sitzt, bin ich nicht frei“?
Text: Brigitte Matern
Auflösung des Rätsels
Diesmal fragten wir nach dem US-amerikanischen Sozialisten und Gewerkschafter Eugene Victor Debs (1855–1926). „Ich bin kein Arbeiterführer“, sagte er bei einem seiner mitreißenden Auftritte, „ich will nicht, dass ihr mir oder irgendeinem anderen folgt; ich bin kein Moses, der euch aus der Wildnis des Kapitalismus führt. Selbst wenn ich es könnte, würde ich euch nicht ins gelobte Land führen – denn dann käme irgendein anderer und würde euch wieder hinausführen. Ihr müsst euren eigenen Kopf und die eigenen Hände benutzen, um eure Situation zu verbessern.“
Debs wurde 1919 – vier Monate nach Ende des Ersten Weltkriegs – zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt; Grundlage für das Urteil war das 1917 erlassene (und heute noch gültige) US-Spionagegesetz. Seine Verhaftung führte damals zu Tumulten und Toten. Hunderttausende verlangten seine Freilassung, die Sowjetunion bot sogar einen Gefangenenaustausch an. US-Präsident Woodrow Wilson weigerte sich jedoch, den „Landesverräter“ zu begnadigen. Erst dessen Nachfolger Warren Harding gab nach; bei Debs’ Freilassung im Dezember 1921 empfing den 66-Jährigen eine jubelnde Menschenmenge. brm
Schreiben Sie einen Kommentar