Manche kennen ihn noch als pragmatischen Sozialdemokraten, der von 1965 bis 1984 im Singener Gemeinderat saß. Doch er war weit mehr als das. Mit Heinz Rheinberger starb – wie erst vor kurzem bekannt wurde – am 9. November einer der wichtigsten Gewerkschafter seiner Zeit.
Wer damals dabei war, hat die Szenen wahrscheinlich bis heute nicht vergessen. Mitte Mai 1984: Zum zweiten Mal stehen Beschäftigte der Südkurier-Druckerei am Fischmarkt vor dem Werkstor und blockieren die Einfahrt. Es sind Mitglieder der IG Druck und Papier, die bereits am 2. Mai die Arbeit niedergelegt hatten. Diesmal sind sie länger auf Streikposten; es wird ein langer Kampf werden, das wissen sie alle: Die von der Gewerkschaft geforderte Arbeitszeitverkürzung von 40 auf 35 Wochenstunden wird sich nicht im Handumdrehen durchsetzen lassen.
Und natürlich ist die Südkurier-Belegschaft auf Unterstützung angewiesen. Die kommt auch. Der DGB-Kreisvorsitzende Erwin Reisacher schaut immer wieder vorbei, ebenso Kolleg:innen aus anderen Branchen und Betrieben. Einige von ihnen bringen Kaffee, Tee und Bretzeln mit. Aber so richtig groß ist die Menge vor der Druckerei nicht.
Das ändert sich erst, als eine große Gruppe Metallarbeiter aus Singen auftaucht, angeführt von Heinz Rheinberger, dem damaligen Bezirksbevollmächtigten der IG Metall Singen. Der greift zum Megaphon, erklärt die Solidarität mit den Konstanzer Schriftsetzern und Druckern, und spricht dann ausführlich über den Tarifkonflikt. Der Streik für die 35-Stunden-Woche sei „kein normaler Arbeitskampf“, sagt er, sondern „eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung“. Dieser hatte sich auch die IG Metall angeschlossen; schließlich gehe es um den Erhalt von Zigtausenden von Arbeitsplätzen.
Es war nicht das einzige Mal, dass Rheinberger mit seinen Leuten den Südkurier-Streikposten besuchte. Bereits drei Wochen später – die Druckereibeschäftigten hatten wieder für zwei Tage die Arbeit niedergelegt – tauchte die Solidaritätstruppe erneut auf.
Vom Schwarzwald an den Hohentwiel
So war er, und so blieb er später vielen in Erinnerung: Solidarisch in Arbeitskämpfen auch über die eigene Branche hinaus, praxisorientiert und konflikterprobt. Ich hatte ihn in den 1980er Jahren öfters für das damalige Konstanzer Regionalmagazin Nebelhorn interviewt. Und ihn beispielsweise ganz problemlos für die von Reisacher und dem Nebelhorn initiierte Unterstützungskampagne für die streikenden britischen Bergarbeiter gewinnen können, die sich 1984/85 fast ein Jahr lang der Privatisierungspolitik von Margaret Thatcher widersetzten.
Wer war dieser Gewerkschafter, der sich einerseits bei Tarifkonflikten stets auf die Seite seiner Klasse stellte, andererseits aber die Sozialpartnerschaft achtete und als Singener SPD-Stadtrat politisch eher gemäßigt agierte?
1931 in einer Schwarzwald-Gemeinde bei Oberndorf geboren, begann er zuerst eine Schreinerlehre, wechselte dann aber zu Kienzle in Schwenningen, wo er als Uhrmachergeselle und betrieblicher Jugendvertreter bald sein Organisationstalent zeigen konnte. Er engagierte sich in der Gewerkschaft, zog nach Singen, wurde im Alter von 28 Jahren Kassierer der IG Metall Singen und bald darauf erster Bevollmächtigter (wie die IG Metall die Leiter:innen gewerkschaftlicher Geschäftsstelle nennt).
35 Stunden sind genug!
In dieser Funktion wurde er bald unentbehrlich. Während seiner Amtszeit stieg die Zahl der IG-Metall-Mitglieder in den von ihm betreuten Betrieben von Alusingen (heute Constellium), Georg Fischer Singen (heute Fondium), Allweiler Radolfzell oder Siemens (ehemals Konstanz) deutlich an. Parallel dazu mehrten sich jedoch die Auseinandersetzungen: Die sogenannten Wirtschaftwunderjahre endeten Mitte der 1970er, die Konzerne rationalisierten Produktionsabläufe, reduzierten ihre Belegschaften – oder machten gleich ganze Werke dicht.
Um die damals rasch anwachsende Arbeitslosigkeit zu stoppen – sie lag 1983 in Singen bei 7,7 Prozent – und die zunehmend produktiveren Arbeitsabläufe auf mehr Schultern zu verteilen, forderten die seinerzeit progressiven Gewerkschaften IG Metall und IG Druck und Papier eine Kürzung der Arbeitszeit von 40 auf 35 Wochenstunden – und Heinz Rheinberger spielte in seiner Organisation eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Denn als Präsident des Beirats der IG Metall, dem höchsten beschlussfassenden Organ zwischen den Gewerkschaftsetagen, setzte er 1977, so Bernhard Grunewald im Singener Wochenblatt „gegen den Willen des Vorstands durch, dass die bundesweiten Delegierten über ein neues Gewerkschaftsziel beraten und beschließen konnten: die 35-Stunden-Woche“.
Werksstilllegungen in Stockach und Gottmadingen
Der lange Kampf hat sich bekanntlich gelohnt. In vielen Betrieben der Druck- und Metallbranche sank die Arbeitszeit von 40 auf 38,5, dann auf 37 und schließlich auf 35 Stunden. Doch ein Allheilmittel gegen Massenentlassungen war das nicht. Oft spielten Profitgier, schlechtes Management, veraltete Produkte und andere Faktoren eine entscheidende Rolle.
So fiel in Rheinbergers Amtszeit die Stilllegung der Landmaschinenproduktion von Klöckner-Humboldt-Deutz (vormals Fahr). Zuerst machte das Werk in Stockach dicht, das 1984 geschlossen wurde (mit dem Verlust von rund 450 Arbeitsplätzen), dann folgte 1988 der Betrieb in Gottmadingen (650 Arbeitsplätze). Dass beispielsweise der Gemeinderat und die Verwaltung von Gottmadingen auf die Werksschließung eher „gelassen“ reagierte und der Konzernentscheidung nichts entgegensetzte, empörte Rheinberger damals. Zu Demonstrationen oder gar Arbeitsniederlegungen wollte der christlich orientierte und auf Ausgleich bedachte Gewerkschafter allerdings auch nicht aufrufen.
Und doch ließ er nie locker. Als Ende der 1980er Jahre zum Beispiel das Allensbacher Institut für Demoskopie eine Umfrage veröffentlichte, derzufolge 62 Prozent von ein paar hundert Befragten die Rückkehr zur Samstagsarbeit befürworteten, nahm Rheinberger das nicht hin. Er tauchte eine Woche später in Allensbach auf und überreichte den Verantwortlichen 4473 Unterschriften von Belegschaftsangehörigen, die Samstagsarbeit rundweg ablehnten.
Die Singener IG-Metall-Verwaltungsstelle hatte die Unterschriften innerhalb von drei Tagen gesammelt. „Wir wollten zeigen, dass man mit entsprechenden Frage auch die gewünschte Antwort erhalten kann“, sagte Rheinberger damals dem Nebelhorn. Und: „Es wäre leicht gewesen, eine zwei- oder dreifache Anzahl an Unterschriften zu bekommen …“
Der Antifaschist
Rheinberger war auch außerhalb der Region aktiv. Er saß in der baden-württembergischen Tarifkommission der IG Metall, vertrat die Beschäftigten im Aufsichtsrat von Alusingen, und ließ sich als ehrenamtlicher Richter in den Senat des Bundesarbeitsgerichts berufen, das damals noch in Kassel tagte.
Rechte, Rechtsextreme und Nazis lehnte er kategorisch ab. Kurz vor Kriegsende, so formulierte es sein Freund Bernhard Grunewald, habe er im Alter von 13 Jahren „zwangsweise für ‚Adolf-Nazi’ kämpfen“ müssen, und später beseitigte er mit seinem Vater SS-Panzersperren, um einen Beschuss des Heimatorts durch die anrückenden Alliierten zu verhindern.
Immer wieder warnte er vor einer Wiederholung dessen, was mit und nach der Machtübergabe an den Nationalsozialismus 1933 passierte. Und so verwundert es nicht, dass Heinz Rheinberger zu den ersten Unterstützer:innen der Singener Kundgebung für Demokratie und Solidarität gehörte, die der Verein InSi und andere für den 27. Januar 2024 organisierten.
Im Unterschied zu den derzeit tonangebenden Politiker:innen fast aller Parteien wußte er nämlich, wohin es führt, wenn man die Politik der Faschisten nachahmt in der Hoffnung, ihnen dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zu einer Situation nämlich wie vor achtzig Jahren. Und damit zu neuem Elend all jener Ausgebeuteten, an deren Seite Heinz Rheinberger sein Leben lang kämpfte.
PS: Ist es Desinteresse, Geschichtsvergessenheit oder Überlastung? Auf der Website der IG Metall Singen ist bis heute kein Wort zu Heinz Rheinberger zu finden.
Text: Pit Wuhrer / Fotos: Rheinberger am MIkrophon (© IG Metall, abgedruckt im Singener Wochenblatt), Streikposten vor der Südkurier-Druckerei 1984 (© Nebelhorn), Rheinberger mit 93 Jahren im Haus am Hohentwiel (© Bernhard Grunewald).
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