Vergangene Woche stimmte der Bundestag mit großer Mehrheit für die Resolution „Nie wieder ist jetzt“. Mit ihr wollen die Parteien jüdisches Leben schützen und stärken – aber auf Basis einer umstrittenen Definition von Antisemitismus. Diese schränke die Meinungs- und Kulturfreiheit ein, sagen viele. Noch kritischer sieht es die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.
1 – Antisemitismus ist kein Massenphänomen mehr
Es gibt keinen schlimmeren Vorwurf, dem man einer Deutschen, einem Deutschen machen kann, als die Behauptung, Antisemit zu sein. Mit dieser Stigmatisierung zerstört man die Person und ihre moralische Integrität.
Denn wozu der Antisemitismus in Deutschland geführt hat, daran werden die Deutschen an Gedenktagen erinnert und davon erfahren die Kinder in der Schule. Dafür steht das Wort Antisemitismus = Judenhass. Dieser Hass auf Juden hat im christlichen Europa eine lange Geschichte und im 19. Und 20. Jahrhundert mehrfach die Form gewechselt; von Nationalisten, Populisten und Rassisten wurde er immer wieder neu aufgelegt. Die aktuelle Stigmatisierung von Akademikern und Intellektuellen ist ein neues Kapitel in der Geschichte des Antisemitismus.
2 – Der Antisemitismus-Vorwurf wird inflationär eingesetzt
Erst durch den Antisemitismus-Vorwurf ist das Thema Antisemitismus wieder in den Vordergrund gerückt. Er wird in den Medien inflationär eingesetzt, denn für die deutsche Regierung ist er zu einem Instrument der Zensur geworden.
Diese Entwicklung geht auf das Jahr 2016 zurück, als eine transnationale Gemeinschaft, die sich seit 2000 für die Holocaust-Erziehung in Europa eingesetzt hatte (die International Holocaust Remembrance Alliance, IHRA), ihr Programm auf Antisemitismusbekämpfung umstellte. Das Instrument für diese politische Intervention war eine Antisemitismusdefinition, die die Kritik an Israel zu einem zentralen Merkmal von Antisemitismus machte: Dieser kann sich auch „gegen den Staat Israel richten, der dabei als jüdisches Kollektiv angesehen wird“.
3 – Die Waffe des Antisemitismusvorwurfs ist in Deutschland schärfer als in anderen Ländern
Dafür gibt es zwei Gründe. Diese Antisemitismus-Definition von 2016 legt den Schwerpunkt auf den „israelbezogenen Antisemitismus“, allerdings enthält sie noch eine Einschränkung: „Kritik an Israel, die mit der Kritik an einem anderen Staat vergleichbar ist, kann nicht als antisemitisch eingestuft werden“.
Und jetzt kommt die deutsche Übererfüllung ihrer historischen Verantwortung: Bei der BDS-Resolution im Bundestag 2019 wurde dieser Zusatz gestrichen! Die als Ergänzung angebotene Antisemitismus-Definition, die sogenannte Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA, 2021) stellte genau diesen wichtigen Unterschied wieder her zwischen dem, was als antisemitisch, und dem, was nicht per se als antisemitisch einzustufen ist. Diese Erklärung, die von Jüdischen Gelehrten verfasst und weiteren 300 jüdischen und nicht-jüdischen Koryphäen der Wissenschaft unterschrieben wurde, galt in Deutschland von Tag 1 an als „antisemitisch“.
4 – Das liegt in Deutschland auch an der „Staatsraison“
Dieses Wort, das im April 2008 in einer Rede von Angela Merkel in der Knesset verwendet wurde, ist heute zum Schlüsselbegriff der politischen Debatte in Deutschland geworden. Andere Worte und Sätze aus Merkels Rede werden jedoch nicht zitiert. Zum Beispiel dieser Satz: „Deutschland tritt entschieden für die Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden ein – für das jüdische Volk in Israel und das palästinensische in Palästina.“ Und: „jede Anstrengung lohnt, die den Nahen Osten einen großen Schritt näher zu einem friedlichen Miteinander bringt.“
5 – Der Antisemitismusvorwurf unterstützt die Politik Netanyahus
Solche Stimmen finden zurzeit in Deutschland kein Gehör. Sie widersprechen dem auf radikale Polarisierung und Eskalation ausgerichteten nationalistischen und religiös fundamentalistischen Kurs der Regierung Netanyahus, dessen Wortschatz (wie die Autorin Lizzie Doron anmerkt) auf zwei Worte reduziert ist: Sieg und Rache.
In Deutschland gibt es keinen fingerbreit legitimen Platz für Israelkritik. Wer sie äußert, entlarvt sich umgehend als ein unverbesserlicher Judenhasser. Die Überschrift in der FAZ sagt alles: „Haß tarnt sich als Kritik“ (7. Oktober 2024). Die Gleichsetzung von Antisemitismus mit einer konstruktiven Kritik, die sich für eine Lösung des Konflikts und eine gemeinsame Zukunft für beide Seiten einsetzt, ist genauso pervers und gefährlich wie Netanyahus Gleichsetzung der Palästinenser mit den Nazis des Hitler-Reichs.
6 – Die Bundestags-Resolution „Jüdisches Leben schützen“ spaltet Deutschland
Im Fokus der Bundestags-Resolution steht nicht der innerdeutsche Antisemitismusvorwurf, sondern der sogenannte „importierte Antisemitismus der Migranten“. Das ist auch der Grund, warum die Politiker der AfD geschlossen hinter der Resolution stehen.
Sie argumentieren, dass Masseneinwanderung das Leben von Juden in Deutschland gefährdet. Gewalt gegen Juden – vom Terrorangriff der Hamas bis zu den palästinensischen Ausschreitungen und Schmähungen von Juden an deutschen Hochschulen – sind erschreckend und müssen bestraft werden. Dieser importierte Antisemitismus ist komplex; zum einen beruht er, wie es in der Resolution heißt, auf „antiisraelischer staatlicher Indoktrination“, zum anderen auf der familiären Erfahrung einer palästinensischen Vertreibungsgeschichte, die inzwischen in der 3. und 4. Generation angekommen ist. Die Anerkennung dieser Geschichte der Nakba (= Katastrophe) – auch durch die Deutschen – ist der Schlüssel für eine Zukunft friedlichen Zusammenlebens im Nahen Osten.
7 – Der Antisemitismusvorwurf fördert eine repressive Politik
In einem Punkt macht der Antisemitismusvorwurf genau das, was er als ‚antisemitisch‘ bekämpft: er behandelt die Juden als eine homogene Gruppe. Es gibt viele Juden und Jüdinnen, die diesen Antisemitismusbegriff als politische Waffe kritisieren: ihnen wird ihr Judentum abgesprochen oder sie fallen in die Kategorie der selbsthassenden Juden.
Mit diesem Instrument kann man eine repressive Politik machen und Hass schüren, aber die anstehenden Probleme nicht lösen, die sich durch das emotionale Überspringen der Aktualität des Kriegs in andere Länder überall offenbaren. Der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland muss höchste Priorität haben. Das kann aber nicht bedeuten, dass Deutschland Aufmerksamkeit und Empathie an nationalen Grenzen abstellt, sondern dass es sich auch dem Schutz palästinensischen Lebens verpflichtet. Wenn vom Existenzrecht Israels die Rede ist, sollte man auch vom Existenzrecht Palästinas sprechen. Wer diese gemeinsamen Grundlagen leugnet und verweigert, den darf man mit Recht als „Antisemit“ oder „anti-palästinensischen Rassist“ bezeichnen.
Text: Aleida Assmann. Die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin mit dem Spezialgebiet Erinnerungsforschung hat zahlreiche Preise gewonnen, darunter mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, 2018 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehört u.a. „Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“ (Verlag Beck, 2020), „Die Welt im Wandel“ (Dresdner Reden 2021), „Wenn man Leid und Unrecht nicht vergessen will“, Deutschlandfunk-Interview November 2023, „Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn“, mit Jan Assmann, Verlag Beck, 2024.
Aleida Assmann, die im Januar 2024 die Eröffnungsrede zur Ausstellung „Es konnte alle treffen“ hielt, hat diesen Beitrag für seemoz verfasst.
Foto (es zeigt das Holocaust-Mahnmal in Berlin): pw,
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