Autoritarismus gewinnt weltweit nicht nur an Zustimmung, sondern tatsächlich auch an Einfluss und Macht – Demokratien geraten ernsthaft in Gefahr. Die Wahrscheinlichkeit, dass Diktaturen (und damit Diktator:innen), das Ruder überlassen werden, wächst. Ein Buch skizziert die Risiken.
Fritz B. Simon hat in rund 300 Fachartikeln und über 30 Büchern viele gute Texte geschrieben, gut im Sinne von analytisch stark, vergleichsweise verständlich, mit souveräner Distanz bei empathischer Nähe zum Thema. Jetzt liegt mit „Die kommenden Diktaturen“ ein Meisterstück an Klugheit und Klarheit vor; ein kleines ist man versucht zu sagen, denn es sind nur 82 Seiten, doch Qualität ist keine Frage der Seitenzahl. Hier antwortet ein gebildeter Mensch mit praktischen Erfahrungen, politischem Verstand und einem weiten wissenschaftlichen Horizont auf die klassischen Fragen, was ist der Fall, was steckt dahinter und wie könnte es weiter gehen.
Die Geschichtsschreibung hat es auch nicht leicht, aber noch mehr drohen Gegenwartsdiagnosen unter den Bedingungen der „neuen Unübersichtlichkeit“ und erst recht Zukunftsszenarien unter der prinzipiellen Voraussetzung der Ungewissheit daneben zu geraten. Was die Zukunft betrifft, hat sich Simon, wie der Untertitel verrät, für „Ein Worst-Case-Szenario“ entschieden. Dabei handelt es sich „nicht um einen Ausbruch ungezügelter schwarzer Fantasie, sondern es stützt sich theoretisch auf die neuere soziologische Systemtheorie und folgt der dort analysierten Logik sozialer Dynamiken“. Dass es den Zweck hat, „eine schwarz ausgemalte Zukunft zu verhindern“, versteht sich.
Triviale Sturheit
Die Gegenwart der Klimakrise seziert Simon als Dr. med., als Psychoanalytiker, Psychotherapeut und systemischer Denker und steigt dabei ein mit dem Kapitel „Die gegenwärtige Struktur der Weltgesellschaft“. Auf zehn Seiten beweist er, dass vieles schärfer zu sehen und besser zu begreifen ist, wenn man nicht von „Kapitalismus über allem“ ausgeht, sondern Kapitalismus als einen Unterfall funktionaler Differenzierung einordnet.
Denn die gleiche triviale Sturheit, die kapitalistisches Wirtschaften charakterisiert, zeichnet auch andere große gesellschaftliche Leistungsfelder der Moderne aus. Rücksichtslosen Eigensinn als Freiheit und Autonomie zu feiern, das findet eben nicht nur in der Wirtschaft statt, sondern auch in Wissenschaft und Öffentlichkeit, Justiz und Politik, Bildung, Sport, Liebe und Medizin.
Auf jedem Feld dient ein (anderer) binärer Code als Erfolgsmaßstab und gibt vor, was erreicht werden soll, nämlich mehr, und was es zu vermeiden gilt, nämlich weniger: Mehr Geld, mehr neue Erkenntnisse, mehr Aufmerksamkeit, mehr Recht, mehr Macht, mehr Wissen, mehr Siege, mehr Sex, mehr Gesundheit. Mit Erfolgsjubel, Druck und Depression machen die Konkurrenzverhältnisse nur sichtbar, wo die Akteure (Staaten, Organisationen, Personen) aktuell stehen, die Dynamik kommt aus der Autonomie des Funktionierens. Unter der Regie einer solchen „fortschrittlichen“ Steigerungslogik wäre kein ökologisches Desaster ein Wunder.
Als ökologische Frage nach den „Grenzen des Wachstums“ steht die Klimakrise seit rund fünfzig Jahren auf der öffentlichen Agenda. Eine grüne soziale Bewegung hat sie aufgegriffen und als gesamtgesellschaftliches Thema fest etabliert. Man kann wirklich nicht sagen, dass außer Darüberreden nichts passiert wäre.
Aber wir stehen vor einem erklärungsbedürftigen Phänomen, dessen sich das Buch im ersten Teil annimmt: Je sichtbarer via Massenmedien und je spürbarer aufgrund direkter Betroffenheiten die Krise sich zu Katastrophen entwickelt, desto stärker wächst der politische Widerstand gegen Veränderungen der „fortschrittlich“-modernen Lebensweise, welche die Beschädigungen und Zerstörungen natürlicher Lebensgrundlagen auf dem Planeten verursacht.
Eine Phase des Chaos
Auf der Suche nach Antworten geben sich der Gesellschaftstheoretiker Simon und der Psychoanalytiker Simon die Hand. Gemeinsam liefern sie Erklärungsangebote, deren Diskussionswürdigkeit nur bestreiten kann, wer sich in die beliebte Abwehrhaltung „Das verstehe ich nicht“ flüchtet, zu der Umberto Maturana angemerkt hat: „Das Verständnisproblem erscheint mir eigentlich als ein Akzeptanzproblem. In den meisten Fällen meint man, etwas nicht zu begreifen, wenn man es eigentlich nicht mag, nicht hören oder lesen möchte. Dann fragt man nach, immer in der Hoffnung, dass sich das Gesagte, das man eigentlich doch weitgehend verstanden hat, aber nicht mag, bei einer erneuten Wiederholung nicht als das erweist, was man verstanden hat und eben aus irgendeinem Grund ablehnt.“ (Maturana & Pörksen: Vom Sein zum Tun, Carl Auer, 2002, S. 202)
Simon erläutert zum Beispiel den aktuellen Verfolgungswahn gegen die Grünen – in einem größeren, hier nicht lieferbaren Kontext – unter anderem damit, dass sie eben nicht mehr die idealistischen Weltenretter an Rande des politischen Geschäftsgangs sind, sondern als eine Regierungspartei grüne Ideen zur Grundlage von Gesetzesvorlagen zu machen versuchen. „Der Kampf gegen die Klimaerwärmung wird, sobald er zu konkreten Vorschlägen einer geänderten Politik führen könnte, zur Ideologie erklärt und eine Hetzkampagne dagegen gestartet. So wird schließlich der aggressive Widerstand gegen den Klimaschutz zum Kulturkampf hochgejazzt, bei dem die naturwissenschaftlichen Fakten keine Rolle mehr spielen oder bestritten werden.“ Halbherzige Sozialdemokraten und engstirnige Liberale, füge ich hinzu, lassen grüne Politik unter populistischen Parolen von Oppositionsparteien, Boulevardmedien und Plattform-Shitstorms auflaufen.
Wie im Wilden Westen
Über die Beschreibung der „Attraktion und Funktionalität autoritärer Herrschaft“ gelangt Simon zu seiner Dystopie mit den Zwischentiteln „Wie im Wilden Westen: Eine Phase des Chaos“ und „Diktatur und Klimafaschismus“. Er beschwört das apokalyptische Ende nicht, er erzählt es und versetzt sein Publikum so in die Lage, auf Distanz zu gehen, es von außen zu betrachten und Alternativen zu denken. Simon folgt der Idee, die in „Katastrophale Kommunikation“ (Müller/ Schulz/ Galling-Stiehler 2024, S. 9) so beschrieben wird: „Das Tabu des Endes brechen, statt es mit Deutungsmacht durch wohl- und übelmeinende Propaganda, paternalistische Verhaltensökonomie, Fake oder identitären Kitsch aufrechtzuerhalten!“
Unter „Was tun?“ diskutiert Simon abschließend zwei Szenarien. Das eine geht davon aus, dass die Klimakrise nicht von Menschen gemacht ist, so dass sich die Menschen den (mehr oder weniger katastrophalen) Umständen nur anpassen, die Entwicklung aber nicht beeinflussen können. Die logische Folge wäre „wohl ein gnadenloser Selektionsprozess, in dem der Reichtum an Ressourcen entscheidet, wer überlebt (das war zwar im Prinzip immer so, aber im Vergleich zu dem drohenden Hitze-Szenario nicht der Rede wert). Soziale Ungleichheit schlägt voll durch, wie jeder Krise fallen auch der Klimakrise sozial Schwache in großer Zahl zum Opfer.
„Es handelt sich um eine extreme Form des Survival of the Fittest, wobei Fitness mit Reichtum gleichzusetzen ist. Mag sein, dass auch Intelligenz und Cleverness bzw. schlichte Abgebrühtheit oder Skrupellosigkeit die Art von Fitness sind, die es im Einzelfall jemandem ermöglichen, einen Ort zu finden, an dem er oder sie in mildem Klima überleben kann. Auf jeden Fall dürfte es auf individueller Ebene zu einem gnadenlosen Ausleseprozess kommen.“
Verantwortung ablehnen oder annehmen
Das andere Szenario nimmt an, dass die Bezeichnung Anthropozän zutrifft und die irdischen Lebensbedingungen inzwischen in hohem Maße Folgen menschlichen Handelns sind. Der große Vorteil dieser Annahme: „Wo man sich als Mensch die ‚Schuld‘ (verstanden als Ursache, nicht im moralischen Sinne) an irgendwelchen Ereignissen oder Prozessen zuschreiben kann, hat man die Möglichkeit, zu lernen und etwas zu ändern. Wer meint, er ziehe einen Vorteil daraus, sich selbst von Schuld freisprechen zu können – und das betrifft nicht nur den Klimawandel, sondern alles, was schief geht im Leben –, handelt sich damit die eigene Ohnmacht ein.“ Verantwortung ablehnen oder Verantwortung annehmen, das ist die Frage.
Verantwortung zu übernehmen bedeutet für Simon, „öffentlich einen Case for Action zu schaffen, d. h. einen Kulturwandel zu fordern und anzustreben, der den Abschied von Konsumismus und Wirtschaftswachstum nicht nur plausibel und akzeptabel, sondern erstrebenswert macht. Es geht dabei um einen radikalen Mentalitätswandel der Bevölkerung der Industriestaaten – und das nicht nur eines Staates, sondern vieler/aller“. Es wäre ein Wandel von der Vorherrschaft des Quantitativen und Instrumentellen zur Wertschätzung des Qualitativen und Respektvollen und er beginnt mit dem, was man immer machen kann, nicht länger mitmachen.
Fritz B. Simon: „Die kommenden Diktaturen. Ein Worst-Case-Szenario“. Carl-Auer-Verlag, Heideberg. 2024. 82 Seiten. 14 Euro
Text: Hans-Jürgen Arlt. Die Rezension erschien zuerst im Blog Bruchstücke / Bild: Apocalypse auf Pixabay.com
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