Vom 7. bis 10. August tagte in Katowice (Polen) die internationale Gemeinschaft der Wikipedia-Autor*innen. An der mittlerweile 19. „Wikimania“ nahmen vor Ort etwa 1000 und über Internet zugeschaltet weitere 2000 Personen aus 130 Ländern teil. Die Veranstaltungen liefen parallel in elf Sälen und umfassten Vorträge, Podiumsdiskussionen, Hackathlons, Vorführungen und informelle Gruppentreffen.
Viele Themen betrafen technische und organisatorische Fragen der Internetenzyklopädie. Aber traditionell nutzen die Freiwilligen, die die ca. 340 Sprachversionen und zahllose verwandte Projekte im Wikiversum erzeugen, solche Gelegenheiten auch, um den hauptamtlichen Chefs des Projekts kräftig den Kopf zu waschen.
Trägerin des Wikiversums ist die amerikanische Stiftung „Wikimedia Foundation“, mit 700 Angestellten und einem Jahresumsatz von knapp 200 Mio Dollar kein ganz kleiner Mitspieler im Netz. Seit 2021 führt dort Maryana Iskander die Geschäfte, eine Unternehmerin mit sozialem Herz und McKinsey-Vergangenheit. Das Problem hat sie von ihren Vorgängern geerbt: Die Foundation hat außer der Geschäftsführung und dem Kuratorium (das strategische Entscheidungen trifft, eigentlich ein Aufsichtsrat) keine Institutionen, vor allem keine Mitgliederversammlung. Denn es gibt formal keine Mitglieder. Die Foundation ist ein Riese ohne Füße, ein Koloss ohne Basis, sie regiert sich selbst, wie in den Tagen, als noch alles auf Jimbo Wale’s Laptop gespeichert war.
Die ca. 280.000 Menschen, die weltweit arbeiten und die Texte, Bilder und Videos zuliefern, die das Produkt „Wikimedia“ ausmachen, haben kaum Mitspracherecht. Zwar hat diese Basis in mehrjährigen Auseinandersetzungen durchgesetzt, dass sie einige Plätze im 12-köpfigen Kuratorium wählen darf. Doch dessen Mehrheit wird immer noch kooptiert, d.h. nichtöffentlich vom Inner Circle erwählt. So finden auch Leute von der Dunklen Seite (Google, Microsoft …) den Weg in das Gremium. Das missfällt vielen, die Wikipedia als Freies Wissen, als Graswurzelprojekt abseits vom globalen Netzkommerz sehen möchten. Und auch wenn sich die Riege um Gründervater Wales bei den letzten Kooptierungen merklich um ethnische Diversität bemühte – an der generellen Unzufriedenheit der Community ändert das nichts.
Denn es bleiben viele Fragen offen: Wer entscheidet über Änderungen der Wikipedia-Software? Wer ist zuständig, wenn einzelne Sprachgruppen nationalistische oder rassistische Wikipedia-Einträge erstellen? Wer verhandelt mit Regierungen böser Staaten, die Wikipedianer einsperren? Dürfen Angestellte der WMF Freiwillige jederzeit und ohne Begründung von der Mitarbeit aussperren? Soll die Foundation Geld von Konzernen wie Google annehmen und ihr Angebot deren Wünschen anpassen? Und macht es Sinn, künstliche Intelligenz zu fördern, um möglichst viel menschliche Mitarbeit an der Enzyklopädie zu ersetzen?
2023/2024 hatte das Projekt den Kraftakt versucht, sich eine neue Verfassung zu geben, die die Rechte der Freiwilligen und ihrer Gruppierungen gegenüber der Foundation stärkt. Über diese von Freiwilligen erarbeitete „Charta“ wurde vor einigen Wochen weltweit online abgestimmt. Sie wurde mit großer Mehrheit angenommen. Und dann hat das Kuratorium sie mit ebenso großer Mehrheit (im Juni diesen Jahres) abgelehnt.
Darüber wurde in Katowice viel geredet, nicht auf der Bühne natürlich, aber im Publikum. Denn so produktiv die Mitarbeitenden des Kuratoriums in San Francisco auch immer sein mögen – ihre Vergütung, die Softwareentwicklung, der Serverbetrieb, einfach alles wird von Spender*innen finanziert, die damit die unermüdliche Arbeit der Freiwilligen belohnen möchten.
*) https://wikimania.wikimedia.org/wiki/2024:Wikimania
Text & Bild: Peter Köhler, aus Katowice
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