Eine queere Stadtgeschichte von Konstanz ist noch nicht geschrieben und Studien, die sich mit Einzelfragen dazu beschäftigen, gibt es nur sehr wenige. In einem Vortrag beim queergestreift-Festival 2024 berichtete der Historiker Karl-Heinz Steinle, auf welche Spuren er bei einer ersten Suche gestoßen ist. Wir dokumentieren seine Überlegungen und einige Beispiele queeren Lebens am Bodensee.
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Mit welchen übergeordneten Fragestellungen könnte man die Konstanzer Geschichte befragen und darüber queere Bezüge und Lebenswelten entdecken? Welche Themen fallen zu der Stadt ein neben queer-historisch wichtigen Eckdaten, die sich auf Repression und Bestrafung von nicht-heteronormativem Verhalten beziehen? Zu ihnen gehört ja als ganz aktuelles Datum die Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes, die am 12. April 2024 im Bundestag erfolgte.
Mögliche Forschungsfragen zum Aufspüren queerer Lebenswelten
Befragen ließe sich beispielsweise die exponierte geografische Lage von Konstanz als größter Stadt am Bodensee und seine direkte Grenze zur Schweiz. Grenzregion kann Abgrenzung, im extremen Fall bei Schließung der Grenzen auch Abschottung bedeuten, manchmal auch Fluchthilfe und Schmuggel. Aber auch Austausch und Transformation, Einflüsse in verschiedener Hinsicht, Kontakt zu anderen Kulturen und Möglichkeitsräumen.
Themen, die in Mittel- oder Norddeutschland und im weit entfernten Berlin wichtig sind, spielen hier in Konstanz sicherlich ebenfalls eine Rolle. Ich denke jedoch, dass die geografische Lage auch den Blick in die Schweiz, nach Österreich, Frankreich und vielleicht auch Liechtenstein erforderte. Bezugspunkte waren und sind vielleicht eher Lindau, Bregenz und Zürich und nicht immer gleich Stuttgart, München oder Berlin. Heute sind Zeitzeugen aus der Schweiz und sogar aus den USA hier anwesend, die Mitinitiatoren und Mitglieder HomosexuellenInitiative Konstanz (HIK) waren, die 1975 gegründet wurden, und noch bis vor kurzem fand in St. Gallen eine Partyreihe für lesbische Frauen statt.
Insofern wirkten und wirken auf die Lebenswelten der Konstanzer*innen auch die queeren Geschichten der anderen Bodensee-Anrainer-Staaten. Zum Beispiel standen in der Schweiz im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland ab 1943 homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern nicht mehr unter Strafe. Andererseits werden sich nach 1945 lesbische Frauen aus Deutschland in Österreich vorsichtiger verhalten haben, denn dort standen noch bis 1971 auch einvernehmliche lesbische Handlungen zwischen zwei Erwachsenen unter Strafe.
So konnte von Konstanz aus etwas wahrgenommen werden, was es in Deutschland nicht (mehr) gab oder was dort nicht (mehr) erlaubt war, beispielsweise in der Schweiz aber schon. So hatte der homosexuelle „Verein der Bücherfreunde“ in Basel in den 1920er Jahren Mitglieder auch in Deutschland, ebenso wie der 1932 gegründete „Schweizer Freundschaftsverband“. Dessen Veranstaltungen in Zürich standen für Frauen* und Männer* offen und konnten von Deutschland aus selbst noch nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Januar 1933 besucht werden. Gleiches gilt bald nach Ende des II. Weltkriegs im Mai 1945 für die regelmäßig stattfindenden Zusammenkünfte und Festivitäten des „Kreis“ in Zürich. Sie richteten sich zwar nur an Männer, wären jedoch in Deutschland zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar gewesen.
Queerer Tourismus in Konstanz
Konstanz und seine exponierte Lage am See und die landschaftlich schöne Bodenseeregion mit ihrem südlichen Flair zogen schon um die Jahrhundertwende viele Künstler*innen an, die ganz unterschiedliche Lebensstile ausprobierten und auch internationale Netzwerke unterhielten. Über alle Jahrzehnte hinweg boten sie queeren Personen Möglichkeits- und Schutzräume. Die Lage von Konstanz begünstigte auch Massen-Tourismus, der neben all seinen Schattenseiten immer auch Austausch ermöglichte. Schon im Umfeld der weltweit ersten queeren Emanzipationsgruppen „Wissenschaftlich-humanitäres Komitee“ oder „Gemeinschaft der Eigenen“ warben ab 1897 Pensionen und Ausflugsheime in der Bodenseeregion um queere Gäste, und auch die Homophilen-Zeitschriften der 1950er Jahre boten Adressen von Zimmervermittler*innen an, an die sich queere Tourist*innen wenden konnten.
Befragen ließen sich auch die zahlreichen Erholungsheime, Kliniken und Psychiatrien mit ihren queeren Gästen und Patient*innen. So ist von mehreren Personen bekannt, dass sie sich zum Heilfasten und zur Regeneration – was durchaus auch eine Umschreibung für Entzug sein konnte – in der Bodenseeregion aufhielten. Beispielsweise befinden sich in einer Berliner Sammlung Schmalspurfilme aus dem Jahr 1958, die den mehrwöchigen Aufenthalt eines schwulen Freundespaares in der Buchinger-Klinik in Überlingen dokumentieren. Sie erlauben einen faszinierenden Eindruck ihrer Anwendungen, ihres Beisammenseins auf dem Zimmer und ihrer Ausflüge und Treffen mit Freund*innen.
Fragestellungen zur queeren Geschichte von Konstanz und Umgebung gibt es also vielfältige. Sie zeigen, dass man an ganz unterschiedlichen – auch nicht per se queeren – Orten fündig werden kann. Es existiert zwar noch keine queere Geschichte von Konstanz, es gibt aber schon viele Ansätze die förmlich nach weiterer Erforschung rufen.
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Queere Lebenswelten: Die Schneiderin und Frisörin Hella Knabe
Ein Beispiel für die Möglichkeiten queeren Lebens in Berlin der 1920er Jahre, und sei es auch nur auf Zeit, ist Hella Knabe, „Freundin der Transvestiten“, wie sie sich selbst bezeichnete. Hella Knabe wurde 1879 in Berlin geboren, war Schneiderin und Frisörin und betrieb in Berlin-Schöneberg ein Maßatelier „für Korsetts und Wäsche“. Dort fertigte sie Korsetts zur „Figurverschönerung“, Perücken, künstliche „Damenbrüste“ und Damenwäsche in ausgefallenen Materialien und vor allem in Sondergrößen an. Zusammen mit ihrem Mann Richard hatte sie einen Versandhandel und eine Pension. Hier verkehrten sogenannte Transvestiten, häufig verheiratete Männer und Familienväter aus der Provinz. Diese ließen sich von Knabe einkleiden und schminken und genossen für einige Tage das Zusammensein in Knabes privatem Zirkel wie auch das Großstadtleben.
Zur Kund*innenbindung vertrieben sie und ihr Mann ihre monatlichen „Kunden-Mitteilungen“, die auf Anfrage verschickt wurden. Bei einer Razzia beschlagnahmte die Polizei Knabes Adressenliste. In einem Prozess wegen Verbreitung unzüchtigen Materials wurde sie 1938 zu einer Geldstrafe verurteilt, das Paar verlagerte daraufhin die Geschäftsführung nach Wien. Die Prozessakten gegen der Firma Hella Knabe befinden sich im Berliner Landesarchiv und sind dort unter dem Titel „Verbreitung pornografischer Schriften (§ 184), Transvestiten“ abgelegt.
Parallel zum Prozess gegen das Ehepaar Knabe begann die Kriminalpolizei, bzw. Gestapo reichsweit in separaten Vorgängen gegen ihre gesamte Kundschaft zu ermitteln. Einer der Kunden von Hella Knabe war ein verheirateter Ingenieur aus Friedrichshafen am Bodensee. Auch gegen ihn ermittelte die Kriminalpolizei. Laut Protokoll gibt er beim Verhör an, dass er sich schon als Junge als Mädchen gefühlt habe und sich sich trotz seiner Heirat immer mehr als Mädchen fühlte. Deshalb sei er vom 27. September bis 8. Oktober 1937 bei Hella Knabe in Berlin gewesen. Er habe habe sich von Knabe einkleiden und schminken lassen und habe die Knabe-Kleidung in seinem Zimmer ihrer Pension getragen und anschließend vernichtet. Eine Hausdurchsuchung wurde bei dem Ehepaar in Friedrichshafen durchgeführt, gefunden wurde nichts. Über das weitere Schicksal dieses Ingenieurs, den wir heute als trans* bezeichnen könnten, ist bislang nichts weiter bekannt.
Queere Lebenswelten: Die Regisseurin und Künstlerin Ulrike Ottinger
Ulrike Ottinger ist eine prominente queere Konstanzerin, die eine hochinteressante Zeitzeugin zur Geschichte des queeren Konstanz und seine Vernetzungen in die Welt wäre. Sie wurde im Juni 1942 in Konstanz als Ulrike Weinberg geboren. Ihre Mutter war die Fremdsprachenkorrespondentin Maria Weinberg, ihr Vater der Kunst- und Dekorationsmaler Ulrich Ottinger.
Ulrike Ottinger machte zunächst eine Banklehre und war ab 1959 Gaststudentin der Akademie der Künste München, danach war sie zu einem langen Studienaufenthalt in Paris, wo sie viele Ausstellungsbeteiligungen hatte. 1969 kam sie nach Konstanz zurück und gründete in Zusammenarbeit mit dem Filmseminar der Universität Konstanz den Filmclub „Visuell“, den sie bis 1972 leitete. Sie baute eine Galerie und eine dazugehörige Druckerei auf, die „galeriepress“. Hier brachte sie zeitgenössische Kunst heraus und machte sie zu einem Kristallisationspunkt avantgardistischer bildender Kunst.
1973 ging Ottinger nach West-Berlin, von wo aus sie bis heute Filme macht und Regie führt.
In Berlin lebte und arbeitete sie viele Jahre mit der Schauspielerin und Szene-Künstlerin Tabea Blumenschein zusammen, die ebenfalls in Konstanz geboren ist. Diese ist auch Darstellerin in einigen ihrer Filme, z.B. 1975 „Die Betörung der blauen Matrosen“ (mit Valeska Gert, Rosa von Praunheim und Frank Ripploh) oder 1979 „Bildnis einer Trinkerin“ (u.a. auch mit Magdalena Montezume, Nina Hagen und Kurt Raab).
Queere Lebenswelten: Die Travestiefigur Tina Lord des Travestiekünstlers Michael Nessler
Eine bekannte Person in Konstanz ist auch Michael Nessler, besser bekannt unter dem Namen seiner Bühnenfigur Tina Lord. Seine Travestie-Show im Dezember 2023 im Stadttheater Konstanz hatte zwei ausverkaufte Veranstaltungen, er hatte sie als Verabschiedung von der Bühne bezeichnet.
Geboren ist Michael Nessler 1954. Nach der Ausbildung und Arbeit als Schaufensterdekorateur begann er als Travestiekünstler aufzutreten und machte Karriere. Dazu erschien am 24.1.1987 im Südkurier der Artikel von Ewald Prünte: „Tina Lord ist Michael Nessler. Ein Blick unter die Damenkleider eines bekannten Travestie-Künstlers“, aus dem ich zitiere: „Heute ist er Tina Lord. Aber nur manchmal: am Abend nämlich, wenn er gemeinsam mit Joosey Morin auftritt. Die Bodenseeregion, Hegau und vor allen Dingen die Schweiz sind Hauptauftrittsgebiete von „Tina Lord & Koosey Morin“. Die beiden leben heute davon, sind inzwischen nicht mehr Amateure, sondern Profis (auch vor dem Finanzamt). […] Tagsüber ist Tina Lord ein normaler Mann (aber was ist schon normal?).“ Tina Lord hatte ein Lokal namens „Hollywood“.
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Wenn Sie weitere Hinweise zur queeren Geschichte von Konstanz und Umgebung haben, senden Sie diese gern an: karl-heinz.steinle@hi.uni-stuttgart.de
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Text: Karl-Heinz Steinle; der Text basiert auf seinem Beitrag zum „Erzähl-Cafe“, das das Zebra-Kino Konstanz am 14. April 2024 im Rahmenprogramm des Festivals queergestreift organisiert hat.
Bild Ulrike Ottinger: Ulrike Ottinger at a Q&A session for „Ticket of No Return“ at the Berkeley Art Museum and Pacific Film Archive in Berkeley, California, United States, 7 March 2019, aufgenommen von hinnk. This file is licensed under the Creative CommonsAttribution-Share Alike 3.0 Unported license.
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