Tina Lord in ihrer Hollywood-Bar in Konstanz © Privat

Die Erforschung der Konstanzer queeren Stadtgeschichte I

Tina Lord in ihrer Hollywood-Bar in Konstanz © Privat
Tina Lord in ihrer Hollywood-Bar in Konstanz © Privat

Eine queere Stadtgeschichte von Konstanz ist noch nicht geschrieben und Studien, die sich mit Einzelfragen dazu beschäftigen, gibt es nur sehr wenige. In einem Vortrag beim queergestreift-Festival 2024 berichtete der Historiker Karl-Heinz Steinle, auf welche Spuren er bei einer ersten Suche gestoßen ist. Wir dokumentieren seine Überlegungen und einige Beispiele queeren Lebens am Bodensee.

Teil 1/2, Teil 2 lesen Sie hier

Spuren queerer Biografien, Orte und Zusammenschlüsse

Auf erste queere Spuren nach Konstanz und in den Bodenseeraum bin ich im Rahmen meiner Forschungen zu Homophilengruppen der Nachkriegszeit gestoßen, die sich allerdings vornehmlich mit Männern beschäftigten. Enge Verbindungen nach Konstanz hatte die „Kameradschaft die runde“ in Reutlingen, die von 1950 bis 1969 existierte und die international operierende Züricher Gruppe „Der Kreis“, die bis 1967 ein eigenes dreisprachiges Monatsheft herausgab. Beide Gruppen hatten Kontakt zu Fritz Scheffelt, dem Besitzer der „Bücherstube am See“, die ab den 1920er bis in die 1980er Jahre für viele queere Menschen eine wichtige Anlaufstelle war.

Auch das Forschungsvorhaben der Universität Stuttgart „Lebenswelten, Repression und Verfolgung von LSBTTIQ in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland“, an dem ich beteiligt bin, hat Hinweise gebracht. Es wurde 2016 gestartet und fragt nach allen nicht-heteronormativen geschlechtlichen Zuordnungen, Fremd- und Selbstbezeichnungen und sexuellen Begehren.

Zahlreiche Hinweise insbesondere zu im Nationalsozialismus verfolgten schwulen Männern mit Konstanz-Bezug liefert die Webseite „Der Liebe wegen“ von Weissenburg-Zentrum LSBTIQA+ Stuttgart und Rosa Hilfe Freiburg. Hinweise zu Frauen werden sich über das Forschungsprojekt „Zwischen Unsichtbarkeit, Repression und lesbischer Emanzipation – Frauenliebende* Frauen im deutschen Südwesten 1945 bis in die 1980er Jahre“ ergeben, das an den Universitäten Heidelberg und Freiburg angesiedelt ist. Besonderes Augenmerk wird das Projekt auf die Aktivitäten des Vereins „Belladonna. Frauen & Kultur“ richten, der bereits 1980 in Konstanz gegründet wurde und dessen Archiv sich bei der Mitfrau Julika Funk befindet.

Strafbarkeit männlicher Homosexualität

In Deutschland wurde männliche Homosexualität über 120 Jahre lang gemäß Paragraf 175 bestraft. Er wurde im Zuge der Gründung des Deutschen Reiches ab 1. Januar 1872 reichsweit eingeführt. In Konstanz, das ab 1806 Teil des Großherzogtums Baden war, hatten schon vor diesem Zeitpunkt ausgesprochen homofeindliche Strafgesetze Anwendung gefunden – ganz im Gegensatz zu den angrenzenden Königreichen Württemberg und Bayern, wo Homosexualität nicht mehr unter Strafe gestanden hatte, was vielleicht einige Personen bewog, dorthin umzusiedeln.

Der Paragraf 175 ging auf das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 zurück und übernahm dessen Text: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren verübt wird, ist mit Gefängniß von sechs Monaten bis zu vier Jahren […] zu bestrafen.“ Der Paragraf existierte in verschiedenen Fassungen, wurde 1935 von den Nationalsozialisten erheblich verschärft, von der Bundesrepublik in dieser verschärften Form übernommen, 1969 liberalisiert und erst 1994 abgeschafft. Er konnte in dieser Zeit große Wirkung entfalten, denn insbesondere im Nationalsozialismus und erneut wieder in der Bundesrepublik kam es zu jeweils weit über 100.000 Ermittlungen und über 50.000 Verurteilungen.

Der Paragraf 175 kriminalisierte dezidiert männliche Homosexualität. Er bestrafte auch Männer, die sich gleichgeschlechtlich betätigten, sich aber weder als bi- noch als homosexuell verstanden und oft auch diejenigen, die heute als Transgender bezeichnet werden, sofern deren sexuelle Handlung als mann-männlicher Sex eingestuft wurde. Lesbische Liebe und Sexualität wurden strafrechtlich nicht verfolgt.

Doch jede Diskussion um eine Veränderung des Paragrafen – und davon gab es zahlreiche – entfachte erneut auch Überlegungen zur Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Frauen. So lange ein entsprechender Paragraf gegen „widernatürliches Verhalten“ existierte, war er eine Gefahr für alle Homo- und Bisexuellen und für jegliches nonkonforme Genderverhalten, denn der Begriff ist dehnbar und in vielen Zusammenhängen einsetzbar, auch gegen lesbische Frauen, trans*- und inter*-Personen, selbst wenn kein entsprechender Paragraph vorliegt.

So hat der Paragraf 175 Unmengen an Akten produziert: Observationen und Kontrollen durch Polizei und Ordnungsämter, erschreckend viele Denunziationsschreiben, Ermittlungs- und Verhörakten, Zeug*innenaussagen, Prozessakten, Gutachter*innen-Akten, Revisionen, und im Weiteren auch Akten der Jugend- und Prozesshilfe, von Bewährungshelfer*innen usw.

Zum Autor Karl-Heinz Steinle

Karl-Heinz Steinle wurde in Mühlacker/Enzkreis geboren und studierte Geschichte und Slawistik in Heidelberg und Berlin. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter und Geschäftsführer des Schwulen Museums Berlin und arbeitet seit 2014 überwiegend als freischaffender Historiker für Forschungsprojekte, Sammlungen und Filmproduktionen, zuletzt als Co-Kurator der Wanderausstellung „gefährdet leben. Queere Menschen 1933-1945“ der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und als historischer Berater des Dokumentarfilms „Queer Exile Berlin“ von Jochen Hick.

Seit 2016 arbeitet Karl-Heinz Steinle im Forschungsvorhaben der Universität Stuttgart „Lebenswelten, Repression und Verfolgung von LSBTTIQ* in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik“, innerhalb dessen gerade das Modul III „100 Jahre geschlechterdivers in Baden-Württemberg?! Lebenswelten und Verfolgungsschicksale von transgender, trans- und intergeschlechtlichen Menschen im deutschen Südwesten (1920-2020)“ gestartet ist.

Archiv- und Recherchesituation

Baden-Württemberg hat im Vergleich zu anderen Bundesländern eine ungewöhnlich gute Aktenüberlieferung. Akten aus dem Amtsgerichtsbezirk Konstanz befinden sich im Staatsarchiv Freiburg im Breisgau. Diese wurden zwar noch nicht systematisch ausgewertet. Aber es gab zahlreiche punktuelle Funde, die u.a. 2021 im Rahmen unseres Forschungsprojektes in der Studie von Julia Noah Munier „Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert“ veröffentlicht wurden.

Diese Aktenberge in den staatlichen Archiven geben jedoch vor allem die Perspektive der Verfolgungsinstitutionen wieder. Es entsteht der Eindruck, dass die Themen Kriminalisierung und Gefährdung in den queeren Lebenswelten andere Themen wie Freundschaft, Glück, Erotik oder einvernehmliche, erfüllende Sexualität überlagerten. Denn es fehlen private Dokumente – der private individuelle Blick: Materialien wie Fotos, Notizen, Briefe, Tagebücher, die Selbstgewähltes und Selbstbestimmtes wiedergeben und damit einen Eindruck von der Vielfalt der Lebenswelten vermitteln, die es ja trotz allem gab. Und gerade danach gilt es weiterzusuchen.

Akten zu den städtischen Aufgaben, die z.B. Lokale, Clubs oder Vergnügungsstätten betreffen – und damit potentielle queere Treffpunkte und geschützte Räume – wie Konzessionen, Beschwerden wegen Ruhestörung etc. sollten sich im Stadtarchiv Konstanz befinden. Jedoch sind die Bestände dort – sieht man von der neuesten Zeitgeschichte der letzten Jahrzehnte einmal ab – nicht unter Begriffen wie „homosexuell“, „schwul“, „lesbisch“, geschweige denn „trans“ oder „inter“ verschlagwortet worden, weshalb sie in den Findbüchern nicht auftauchen. Trotz großer Bereitschaft zur Zusammenarbeit, muss – wie in fast allen Stadt- und Heimatarchiven – auf Rechercheanfragen bedauernd gesagt werden: Dazu haben wir leider nichts.

Filmfestival Queergestreift, Plakat 2024 © Zebra Kino

Um das, was in diesen Archiven aber dennoch sicherlich schlummert, zum Leben zu erwecken, braucht es deshalb beharrliche Anfragen, am günstigsten mit ersten Anhaltspunkten für die Recherche wie Namen, Lebensdaten, Wohnorten oder Daten und Bezeichnungen konkreter Anlässe.

Gleiches gilt für Recherchen in der regionalen und überregionalen Presse, z.B. im Archiv des „Südkurier“, der 1945 auf Initiative der französischen Alliierten in Konstanz etabliert wurde. Dort finden sich durchaus Berichte über queere Themen, und es wäre eine eigene Forschung wert, welches Bild von queeren Menschen über die Jahrzehnte hinweg vermittelt wurde. Erstaunlich ist es und vielleicht ein Beleg dafür, wie wenig Bedeutung die einzige große Tageszeitung von Konstanz dem Thema queer bemisst, und dass über das deutschlandweit wahrgenommene queere Filmfestival im Zebra-Kino nicht berichtet wird.

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Queere Lebenswelten: Der Buchhändler Fritz Scheffelt und seine Bücherstube am See

Die Bücherstube wurde 1926 an ganz zentraler Stelle in Konstanz an der Markstätte 4 eröffnet. Sie wurde, soweit ich weiß, erst vor einigen Jahren geschlossen. Initiator und Inhaber der Buchhandlung war bis 1960 Fritz Scheffelt, sein Mitarbeiter war Joseph Neser, der die Buchhandlung danach übernahm und dann an seinen Sohn Peter übergab. Fritz Scheffelt wurde 1890 in Badenweiler geboren und starb 1963 in Müllheim/Baden. Scheffelt hatte in Paris und Straßburg französische Literatur und Philosophie studiert und in Berlin den Verlag Scheffelt & Morawe gegründet. Als dieser eingestellt werden musste, kam er über den befreundeten Verleger Oskar Wöhrle nach Konstanz und öffnete hier die Buchhandlung.

Sie wurde bald zum Treffpunkt der um den Bodensee angesiedelten Künstler*innen und Literat*innen wie Anette Kolb, René Schickele oder Otto Marquardt. Neben linker Literatur und Erotica führte Scheffelt auch Literatur zum Thema Homosexualität. Das führte 1936 zu einem Überfall durch ein SA-Kommando: einige Bücher wurden öffentlichkeitswirksam vor dem Geschäft verbrannt, ein Großteil des Bestandes beschlagnahmt. Trotz dieser Aktion und obwohl Scheffelts Homosexualität in der Stadt bekannt war, blieb er von einer Verhaftung verschont. Dass er gefährdet war, wurde ihm aber bei der Aktion unmissverständlich zu erkennen gegeben: „Oh sind Se doch froh, dass mer Se nit selber mitnehmet!“ soll ihm gesagt worden sein.

Doch davon ließen sich Scheffelt und sein Mitarbeiter Sepp Neser nicht abschrecken, im Gegenteil: sie fanden ein neues Ladengeschäft in der Kreuzlinger Straße 11 unweit der Schweizer Grenze. Laut Aussagen von Peter Neser wurde die Adresse zum Fluchtpunkt für Jüd*innen, politisch Verfolgte und Homosexuellen. Ihnen halfen Scheffelt und das Ehepaar Neser bis zur Schließung der Grenzanlagen 1941 trotz großer eigener Gefahr über die Grenze. Sie fuhren mit dem Zug nach Singen und gelangten von dort als Wanderer verkleidet nach Schaffhausen.

Nach 1945 machte sich Scheffelt um den Wiederaufbau des Buchhandels verdient, knüpfte Kontakt zu emigrierten Konstanzer*innen und zu ausländischen Bibliotheken. Und er engagierte sich nun aktiver in der sich neu bildenden Homophilenbewegung. Er wurde Mitglied in der Züricher Gruppe „Der Kreis“, für die er eine Ansprechstelle in Deutschland wurde, nahm an den Zusammenkünften teil und deckte sich mit Literatur ein, die er nach Deutschland brachte. Seine Buchhandlung war eine der ganz wenigen in Deutschland, die in Homosexuellenzeitschriften warben.

Über den „Kreis“ kam Scheffelt in Kontakt zur Gruppe „Kameradschaft die runde“ in Reutlingen, die er mit Literatur versorgte. Und auch jetzt half er vor Verfolgung bedrohten Menschen. So schleuste er 1952 illegal den jungen Eduard Krumm aus Reutlingen über die Grenze. Gegen diesen war ermittelt worden, weil er eine Affäre mit einem Amerikaner hatte. Während der erkennungsdienstlichen Behandlung konnte er mit Hilfe des Fotografen fliehen.

Queere Lebenswelten: Therese Michelberger und Claere Angel

Im Zuge der demokratischen Freiheiten der Weimarer Republik bildeten sich ab 1919 auch in den Großstädten des heutigen Baden-Württemberg Freundschaftsbünde, lose Zusammenschlüsse oder private Netzwerke. In Konstanz sind solche bislang noch nicht nachgewiesen. In Stuttgart gab es gleich mehrere queere Lokale, und der schwul-lesbische „Bund für Menschenrechte“ hatte eine eigene Ortsgruppe dort. Zudem gab es eine regionale Verkaufsstelle für queere Zeitschriften wie „Die Freundschaft“, „Die Freundin“ oder „Das 3. Geschlecht“. In der Lindenstraße 31 befand sich der queere Treffpunkt „Blauer Bock“. Inhaberin war die 1891 in Saulgau geborene Therese Michelberger, die das Lokal mit ihrer Partnerin Else Bühler betrieb. Noch im Oktober 1932 warben sie im „Freundschaftsblatt“ für den „Treff für Freundinnen und Freunde“ und ihr „Freundschaftslokal“.

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 änderte Michelberger den Namen des Lokals in „Württembergerische-Hohenzollernsche Brauerei-Ges. AG“ und konnte dank dieser Camouflierung ihr Lokal unbeschadet bis 1943 fortführen. Im Oktober 1944 zog sie nach Konstanz und war bis 1950 in der Kreuzlinger Straße 30 gemeldet. Ebenfalls dort gemeldet war ihre neue Freundin Claere Angel, 1901 in Dillingen/Donau geboren. Sie war bis zu dessen Auflösung 1933 die zweite Vorsitzende des schwul-lesbischen Bundes für Menschenrecht, Ortsgruppe Stuttgart gewesen. Zum Tode ihrer Freundin Theresa gab Claere Angel im Südkurier eine Todesanzeige auf, die dort am 9.3.1950 erschienen ist. Die Anzeige hat den für die damalige Zeit sehr ungewöhnlichen Text: „Meine innigstgeliebte Kameradin und Prinzipalin, Frau Thea Michelberger“. Claere Angel starb im April 1963 in Konstanz. Fotos der beiden Frauen ließen sich im Stadtarchiv Konstanz nicht ermitteln. Auch zur Kreuzlinger Straße 30 liefert dessen Bildsammlung leider keinen Treffer. Dennoch liegen genügend Ausgangspunkte für weitere Recherchen vor.

Fortsetzung folgt …

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Wenn Sie weitere Hinweise zur queeren Geschichte von Konstanz und Umgebung haben, senden Sie diese gerne an: karl-heinz.steinle@hi.uni-stuttgart.de

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Text: Karl-Heinz Steinle; der Text basiert auf seinem Beitrag zum „Erzähl-Cafe“, das das Zebra-Kino Konstanz am 14. April 2024 im Rahmenprogramm des Festivals queergestreift organisiert hat.

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