Vergangenes Wochenende wurde mit vielen Veranstaltungen die 40-jährige Städtepartnerschaft zwischen Konstanz und der böhmischen Stadt Tabor (Tschechien) gefeiert. Dabei hielt Dr. Franz Segbers eine nachdenkliche und höchst aktuelle Rede, hier nachzulesen in vollem Wortlaut.
Ich möchte mein Grußwort mit einer Erinnerung verbinden. In wenigen Tagen ist es genau 110 Jahre her, dass sich in Konstanz am 2. August 1914 mitten im Chaos der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg fast einhundert Teilnehmer aus zwölf europäischen Ländern zu einer lang vorbereiteten Friedenskonferenz trafen, um einen „Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen“ zu gründen. Er existiert heute noch unter dem Namen „Christlicher Versöhnungsbund“. In der Einladung zur Friedenskonferenz heißt es: „Durch Freundschaft der Kirchen müssen Gefühle von Misstrauen und Hass sowie Antipathie zwischen Völkern und Nationen überwunden werden.“
Vertreter von dreißig Konfessionen und Kirchen aus Frankreich, Belgien, den USA, England, Schweden, Norwegen, Dänemark und Holland und aus Deutschland wollten den heraufziehenden Krieg verhindern – und gerieten dann mitten in die Mobilmachung. Kaiser Wilhelm II. hatte alle Antikriegsdemonstrationen verboten, nur für die Friedenskonferenz in Konstanz war eine Ausnahme zugelassen. Die Teilnehmer tagten im Inselhotel und hörten den Lärm der badischen Truppen, die sich am Bahnhof versammelten. Es war eine beklemmende Situation, über die ein Teilnehmer zurückblickend berichtete: „Draußen waren Deutsche, Franzosen und Engländer im Begriff, gegeneinander zu kämpfen; hier knieten Deutsche, Franzosen und Engländer im Gebet. Draußen riefen die Menschen nach Blut.“
Aber es gab einen unbedingten Friedenswillen, den ein amerikanischer Teilnehmer der Friedenskonferenz so auf den Punkt brachte: „Die Kirchenleute aus aller Welt sind nicht davongelaufen, sondern als die Kriegswolken sich über Europa zusammenzogen und Millionen vom Krieg sprachen, sind wir in Konstanz geblieben und haben dort vom Frieden gesprochen“. Während sich die badischen Regimenter am Bahnhof für das Schlachtfeld sammelten, erinnerten die Kirchenvertreter in ihrer Erklärung daran: „Das Werk der Versöhnung und die Förderung von Freundschaft ist eine wesentliche christliche Aufgabe.“ Die Resolution unterstrich, dass „freundschaftliche Beziehungen zwischen den Völkern herzustellen“ seien.
Zum hundertsten Jubiläum der Gründung des „Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen“ vor zehn Jahren gab es in Konstanz noch eine große Ausstellung und ein öffentliches Erinnern. Im überfüllten Rathaussaal empfing der damalige und auch derzeitige Oberbürgermeister Uli Burchardt die Konferenzteilnehmer mit dem programmatischen Satz: „Konstanz braucht den Frieden. Und: Der Frieden braucht Konstanz.“ Dieses Erinnerung an die Konferenz in Konstanz von 1914 brauchen wir erneut. Denn heute erinnern wir uns an die tragische Geschichte unserer beider Nachbarländer Deutschland und Tschechien, die zu oft auch eine Geschichte der Gewalt und der Kriege war. Und abermals ist der Krieg zurück in Europa. Deshalb brauchen wir die Erinnerung an diese Friedenskonferenz in Konstanz vor einhundert Jahren.
Genau 500 Jahre nach dem Konstanzer Konzil (1414 bis 1418, Anm. d. Red.) tagte im früheren Dominikanerkloster, das heute als Inselhotel bekannt ist, ein zweites Friedenskonzil. Im damaligen Dominikanerkloster wurde Jan Hus gefangen gehalten. Jan Hus wollte eine Kirche im Sinne der Bergpredigt. Er wollte eine Kirche, die dem Frieden dient. Deshalb hatte Hus auch eine Rede über den Frieden nach Konstanz mitgenommen, die er dem Konzil vortragen wollte. Dazu hat er nie Gelegenheit bekommen. Die Mächtigen der Kirche verurteilten solche Reformbemühungen. Jan Hus und wenige Tage später auch sein Mitstreiter Hieronymus wurden vor den Toren der Stadt verbrannt. Jan Hus ist ein Opfer der Gewalt, die im Namen der Religion ausgeübt wurde.
Hier tagte nun ein zweites Konzil, um den Kampf der Kirchen für Gerechtigkeit und Frieden vorzubereiten. Man hatte eigens diesen Ort ausgesucht, um eine Verbindung zwischen Jan Hus und der Gründung der christlichen Friedensbewegung zu knüpfen. Konstanz war der richtige Ort für die Gründung des „Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen“. Die Gewalt gegen Jan Hus und Hieronymus hat nicht gesiegt. Der Tod wurde zum Samen für eine Reform der Kirche. Genauso erging es der eigentlich missglückten Friedenskonferenz in Konstanz. Aus ihr sind zwei christliche Friedensbewegungen hervorgegangen: Der christliche Versöhnungsbund und der „Friedensbund deutscher Katholiken“ um den Freiburger Max Joseph Metzger, dem eine Straße in Konstanz gewidmet ist.
Der Friedensaufruf der Konstanzer Friedenskonferenz von 1914 verhallte im Kanonendonner des Ersten Weltkriegs. Doch nur wenige Jahre später im Jahr 1931 wurde der später vom NS-Regime umgebrachte deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer Sekretär des Weltbundes. Nur kurze Zeit, nachdem das NS-Regime die Macht ergriffen hatte, hielt Bonhoeffer im Jahr 1934 im dänischen Fanö eine geradezu prophetische Rede:
„Zwischen den Klippen des Nationalismus und des Internationalismus ruft die ökumenische Christenheit nach ihrem Herrn und nach seiner Weisung … Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt … Die Welt starrt in Waffen.“
Während in der Reformation des 16. Jahrhunderts um die Rechtfertigung durch Gott gerungen wurde, brauchen wir heute eine Reformation, die einen Frieden ohne Waffen zum Thema der Kirchen und der Christen macht.
Jan Hus wurde Opfer einer Gewalt, die letztlich der damalige Papst zu verantworten hatte. Mit Bewunderung können wir heute – wenigstens ich tue es als alt-katholischer Theologe – nach Rom auf den heutigen Papst Franziskus schauen. Mitten im Irrsinn von zerstörerischer Waffengewalt ruft er immer wieder die Ukraine und Russland zu Verhandlungen auf. Er ist einer der wenigen öffentlichen Stimmen der Vernunft, wenn er für einen Verhandlungsfrieden eintritt. Er forderte: „Das Wort ,verhandeln‘ ist ein mutiges Wort. … Verhandlungen sind nie eine Kapitulation. Es ist der Mut, das Land nicht in den Selbstmord zu treiben.“ Er appellierte, die Logik der Gewalt zu unterbrechen: „Mut zu Verhandlungen ist keine Schande, sondern eine Stärke.“ Nicht noch mehr Blutvergießen! Friede kann nicht durch Waffen und immer mehr Waffen herbeigebombt werden. Der Papst ist ein prophetischer Störenfried im Kriegswahn Europas. Er steht für Versöhnung, Gewaltfreiheit und aktives Friedensstiften.
Hier begegnen sich Jan Hus und Hieronymus von Prag, beide Gewaltopfer im Namen der Religion, und der heutige Papst Franziskus, der im Namen der Religion aufruft, jeglicher Gewalt abzuschwören und appellierte: „Unterbrechen wir die Logik der Gewalt. Machen wir die aktive Gewaltfreiheit zu unserem Lebensstil.“ Denn: „Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen.“
Den fürchterlichen Zweiten Weltkrieg gerade überwunden, gab es eine große Übereinkunft in unserem Land: Die Verfassung des Landes Baden von 1947 nennt es in Art. 57 eine Aufgabe des Staates, „einen dauernden Frieden zu fördern“. Und der Wille, „dem Frieden der Welt zu dienen“, wurde zum Obersatz in der Präambel des Grundgesetzes von 1949. Die Verfassung ist nach seinem Willen und Wortlaut ein Manifest des Friedens. Dieses Friedensgebot ist dann freilich anders als das Rechtsstaats- oder das Sozialstaatsgebot, nicht weiter ausgearbeitet worden. Es ist stumm geblieben und die Politik hat es vernachlässigt. Das Friedensgebot ist die Glocke im Glockenturm unserer Verfassung.
Es ist höchste Zeit, dass die Friedensglocke der Verfassung wieder laut geschlagen wird, denn abermals wird zur Kriegstüchtigkeit aufgerufen. Kriegstüchtigkeit zu propagieren ist nicht nur falsch, sondern verstößt auch gegen das Friedensgebot unserer Verfassung. Tüchtigkeit ist kein Wort, das man mit Krieg verbinden sollte. Nicht für den Krieg sollte ertüchtigt werden, sondern für den Frieden. Das war jedenfalls der Konsens nach dem Krieg. Das war auch ein Grundanliegen von Jan Hus. Deshalb sollten wir uns in Konstanz bei dieser Gedenkfeier für Jan Hus und beim Jubiläum der Städtepartnerschaft mit der tschechischen Stadt Tabor an die Gründung der christlichen Friedensbewegung erinnern. Ihre Botschaft im Kanonendonner des Ersten Weltkriegs lautete: Wir müssen friedenstüchtig werden. Was der Oberbürgermeister Ulrich Burchardt von Konstanz vor zehn Jahren bei der Jubiläumsveranstaltung 100 Jahre christliche Friedensbewegung so treffend gesagt hatte, gilt mehr denn je gerade heute in den Zeiten, wenn wieder Kriegstüchtigkeit propagiert wird: „Konstanz braucht den Frieden. Und: Der Frieden braucht Konstanz.“
Text: Dr. Franz Segbers, alt-katholischer Priester, em. Professor für evangelische Sozialethik an der Universität Marburg. Bild: H. Reile. Die Aufnahme zeigt den Gedenkstein für Jan Hus und Hieronymus von Prag im Konstanzer Stadtteil Paradies. Hier wurden Hus und Hieronymus verbrannt.
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