Der Bildhauer und Grafiker Vadim Sidur (1924-1986) musste lange auf die Anerkennung seiner Kunst warten. Als Avantgardist mit einer individuellen Formensprache arbeitete er in Moskau weitgehend isoliert, ehe er vor allem im Westen langsam bekannt wurde. Zu seinem 100. Geburtstag gibt es am Freitag im Hockgraben an seiner Skulptur „Die heutige Zeit“ eine Lesung.
„Ich litt und leide physisch unter der Last der Verantwortung denen gegenüber, die gestern umkamen, heute umkommen und zweifellos morgen umkommen müssen.“
Mit diesen Worten beschrieb der Bildhauer Vadim Sidur, was ihn dazu bewegte, einen Zyklus von Skulpturen mit Titeln wie „Den Opfern der Gewalt“, „Treblinka“, „Die heutige Situation“, „Der Mahner“ und „Tod durch Bomben“ zu schaffen. Zeit seines Lebens beschäftigte ihn das Thema Gewalt. Sidur wurde in Ekaterinoslav, dem heutigen Dnipro, geboren. Als Kind erlebte er den Holodomor, als Jugendlicher den Überfall deutscher Truppen. Die jüdische Familie seines Vaters wurde von den Deutschen ermordet. Er wurde eingezogen und schwer verwundet. Später begann er ein Medizinstudium, das er abbrechen musste, weil er das tägliche Leid der Kranken nicht ertrug. Stattdessen wurde er Bildhauer.
Seine Beziehung zu Deutschland sah er durch drei Wunder geprägt: Das erste bestand darin, dass er am Leben blieb, trotz der schweren Gesichtsverletzung durch die Kugel eines deutschen Maschinengewehrs. Das zweite darin, dass sich Freundschaften in das Land knüpften, aus dem die Feinde gekommen waren. Und das dritte darin, dass in diesem Land seine Skulpturen aufgestellt wurden, die Krieg und Gewalt anklagen, zum Frieden mahnen und zur Versöhnung aufrufen.
In der Sowjetunion konnten seine Arbeiten zu Lebzeiten nicht ausgestellt werden, seine Kellerwerkstatt war ein Ort der nichtoffiziellen Kunst. Dicht drängten sich hier Figuren, die von Leid und der Bedrohung der Menschheit durch den Menschen künden, aber auch vom Überlebenswillen und der Freiheit des Künstlers, von seinem fast physischen Vergnügen an der Schwere, den Innen- und Außenräumen seiner Skulpturen, und von seiner großen Liebe zu Julia, seiner Frau und Helferin, von der Kraft der menschlichen Verbindung und der Begegnung zwischen Mann und Frau.
Der Konstanzer Slavist Karl Eimermacher sah in Prag Fotografien von Sidurs Werken, er konnte es kaum glauben, dass im Moskau der späten 1960-er Jahre ein solcher Künstler lebe. Er suchte ihn auf und setzte sich ab diesem Zeitpunkt dafür ein, Sidurs Werk im Westen bekannt zu machen. Ihm ist es auch zu verdanken, dass im Hockgraben die Skulptur „Die heutige Situation“ errichtet wurde. Jetzt unterstützt er die Sidur-Sammlung in Dnipro, der Stadt, die seit 2022 mehrfach schweren russischen Raketenangriffen ausgesetzt war. Zum 100. Geburtstag des Künstlers wird dort das Denkmal „Tod durch Bomben“ aufgestellt werden.
Was: Lesung
Wer: Fachbereich Literatur-, Kunst- Medienwissenschaften/Slavistik der Konstanzer Uni, Antonia Braun und Bernhard Hanuschik lesen, Renata von Maydell gibt eine Einführung.
Wann: 28. Juni 2024 um 14.00 Uhr.
Wo: Hockgraben bei der Skulptur „Die heutige Zeit“. Treffpunkt für diejenigen, die den Weg zur Skulptur nicht kennen, ist um 13.45 Uhr an der Bushaltestelle Universität (Linie 9 und 11). Die Lesung wird etwa eine halbe Stunde dauern und im Café Selma ausklingen.
Text: Renata von Maydell, Bilder: © Karl Eimermacher
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