Markelfingen hat wieder eine aktuelle Ortschronik, 50 Jahre nach der letzten und passend zum (angeblichen) 1300. Geburtstag des Ortes, der lebhaften Anteil an allen Zeitläuften hatte. Wir haben das schmucke Buch gelesen.
Die Beschäftigung mit Geschichte wird vor allem dadurch spannend, dass sie wie ein Netz funktioniert: Ein zunächst unscheinbarer und lange missverstandener Fund an einem unspektakulären Ort wie dem Neandertal kann zu einem neuen Verständnis wichtiger Elemente der Menschheits- oder gar der Erdgeschichte führen. Auf der anderen Seite hinterlässt die „große“ Geschichte ihre Spuren natürlich auch vor Ort im „Kleinen“, sei es die französische Revolution oder ein Weltkrieg. „Und dennoch, in der Tat gälte es nur, den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb‘ des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze, und in der nun breiteren offenen Bahn würden auch die anderen, sich ablösend, einzelweis sichtbar“, wie es Heimito von Doderer so trefflich formulierte.
Ein solcher Faden im „Geweb‘ des Lebens“ ist auch die gerade zum Geburtstag des Ortes erschienene Chronik von Markelfingen. Dass Markelfingen ebenso wie die Reichenau oder Ermatingen gerade in diesem Jahr 1300. Geburtstag feiert, ist kein Zufall, denn die Geschichte dieser und weiterer Gemeinden ist über das Kloster Reichenau eng miteinander verknüpft. (So soll z.B. das lokale Ermatinger Idiom der älteren Generation noch vor wenigen Jahren hörbar von der Sprache der anderen, der deutschen Seeseite geprägt worden sein.)
Schon „immer“ besiedelt
Natürlich ist aber der 1300. Geburtstag eine – wenn auch nicht ganz willkürliche – Setzung. Wenn Archäologen ein wenig graben, stoßen sie schnell auf viel ältere Siedlungsspuren, und auch in Markelfingen gibt es Überreste von Pfahlbauten, die bis zu 5900 Jahre alt sind.
Auch die ganz große Geschichte griff natürlich schon früh auch bis an den Bodensee aus: Die Römer*innen, stets eifrig dabei, ihr Imperium zu erweitern, kamen schon vor Christi Geburt an den Lacus Brigantinus, schlugen hier angeblich 15 v. Chr. eine Seeschlacht gegen die Kelten. Sie ließen sich später am See nieder, wie zahlreiche Markelfinger Funde auch von Alltagsgegenständen aus dem 1. bis 3. nachchristlichen Jahrhundert, als das römische Reich zu schwächeln begann, belegen.
Das Dokument, das den exakten „Geburtstag“ des reichenauischen Dorfes Markelfingen im Jahr 724 beweisen soll, ist zwar eine Fälschung, aber das von Wald und Wiesen umgebene „Marcholvinga“ oder „Marchelfingen“ hatte tatsächlich damals Lehenshöfe und -mühlen, deren Abgaben bald auch die Geistlichkeit nährten. Der nördliche Teil des Dorfes musste dann bereits um das Jahr 1000 den Zehnten an die Pfarrei, der südliche an das Kloster Reichenau abführen, das die Ortsherrschaft und Gerichtsbarkeit in Markelfingen das Mittelalter über behielt. Ab 1540 unterstand Markelfingen schließlich dem Bischof von Konstanz, weil der seinerseits das Kloster Reichenau und damit Markelfingen an sich gebracht hatte. Auch im Klerus gönnte der eine dem anderen das Schwarze unter dem Fingernagel nicht, und Klöster waren nicht zuletzt Wirtschaftsbetriebe, die bei Misswirtschaft Schulden aufhäuften und so in neue Abhängigkeiten geraten konnten, die natürlich auch von ihnen abhängige Dörfler betrafen. Im Jahr 1425 hatte das Dorf entlang dem Mühlbach 28 Anwesen mit ca. 140 Bewohner*innen, da kam schon einiges zusammen.
Vom Dorf zum Stadtteil
Die Grundzüge der anschließenden Geschichte bis in die Jetztzeit hinein kennt man so oder so ähnlich seit alters her: Plünderungen im Dreißigjährigen Krieg, wobei Feind wie Freund ähnlich schlimm hausten, Flucht vor dem Krieg bis in die Schweiz, die Pest, regelmäßige Hungersnöte, und eine Obrigkeit, die den Menschen aus Habgier und Herrschsucht das oft kurze Leben auf Erden zur Hölle machte.
Natürlich war man auch in Markelfingen zum Leben auf die Natur und deren Nutzung angewiesen. Nicht nur Hausbau und Heizung, die ganze Wirtschaft hing früher stark vom Wald ab, mit dem man entsprechend pfleglich umging. Im Sommer ernährte er auch das liebe Vieh mit, und mit Holz ließ sich profitabler Handel treiben. Die Menschen arbeiteten vor allem als Bauern, Tagelöhner und Handwerker. So lebten in Markelfingen im Jahr 1802 bereits 237 Personen in ca. 53 Familien, 26 Pferde, 32 Ochsen, 76 Kühe, 50 Schweine, 24 Schafe und Ziegen mehr oder weniger einträchtig Seit‘ an Seit‘ (zumindest bis zum Schlachtfest, bei dem die Freuden eher einseitig verteilt waren). Außerdem gab es drei Gasthäuser, eine Brauerei und mehrere Brennereien im Orte, denn auch schon damals war der Durst schlimmer als das Heimweh; wohl viel schlimmer, wenn man all die Gelegenheiten betrachtet, zu denen die Gemeinde, in der bis zum 1. Weltkrieg Wein angebaut wurde, ihren Bürgern Alkohol in Mengen kredenzte …
Durch die Jahrtausende
Doch genug der alten, sich nur allzu oft wiederholenden Geschichten von Krieg, Armut, Missernten und Auswanderung nach Amerika oder Ungarn, aber auch der zunehmenden bürgerlichen Freiheiten nach dem Ende der Leibeigenschaft und der bescheidenen Industrialisierung der Region.
Immer wieder halten die Autor*innen der Ortsgeschichte bei einzelnen Themen oder Personen vertiefend inne (etwa beim Personal des Nationalsozialismus), so dass trotz der immensen Zeitspanne, die das Werk abdeckt, ein rundes, allgemeinverständliches Bild entsteht. Die Ortschronik von Markelfingen ist daher eine spannende Lektüre und zudem ein ansehnliches Druckwerk mit 344 zumeist bebilderten Seiten, das im lokalen Buchhandel erhältlich ist.
Das Buch
1300 Jahre Markelfingen – Die Ortsgeschichte. Herausgeberin: Stadt Radolfzell/Ortsverwaltung Markelfingen (Hegau-Bibliothek Band 196), 1. Auflage 2024, 344 Seiten, ISBN 978-3-00-077532-1.
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Text: Harald Borges, Bild oben: Markelfingen von Süden, 22. April 2022, Bild von Flodur63 via Wikipedia. Lizenz: Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“. Bild unten: Liselotte Brunner auf Pixabay
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