Faschistische Partygesänge auf Sylt, die Feiern zu einem Grundgesetz ohne Aslyrecht, der Schwur von Buchenwald, die ewige Verdrängung der Schuld und dumme Kommentare auf seemoz – es ist nicht immer einfach, in einem Land zu leben, in dem Verantwortung und Solidarität oft wenig zählen.
Es gibt so Wochen, da ergreift mich der Deutschlandblues. Auslöser ist eine spezifisch deutsche Stimmung; ein Gemisch aus kleinen Alltagserlebnissen, aktuellen Ereignissen, erinnerten Assoziationen und dem politischen Klima. Der Deutschlandblues fühlt sich an wie ein unsichtbares Nagelkissen, das sich langsam aber stet durch die Schichten meiner Haut kämpft und unangenehm an meinem Nervenkostüm kratzt, das un-arischerweise weder zäh wie Leder, noch hart wie Kruppstahl ist.
Deutschland feiert 75 Jahre Grundgesetz. Seit 75 Jahren ist die Würde des Menschen verbrieft unantastbar – nach Jahren unbeschreiblichen Grauens, das deutsche Nazis der Welt beschert haben, ist das revolutionär. Das Grundgesetz ist ein tolles Papier für Menschen mit und ohne Nazihintergrund.
Derweil, auch in Deutschland, feiert die deutsche Schickeria ausgelassen auf Sylt mit angedeutetem Hitlerbart und ausgestreckten Armen grölend zu einem italienischen Partysong von Gigi D’Agostino: „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus.“ Niemand stoppt sie. Das Video wohlgekleideter und sichtlich der Oberschicht angehörender Feiernder geht viral. Schnell ploppen Namen und Funktionen der stolzen Deutschen auf, darunter ein Professor, aktive CSU-Mitglieder – ganz normale Deutsche, beim Feiern eben. Auf Sylt sei das normal, schreiben viele Menschen auf Instagram.
Cathy Hummels, die Ex-Frau eines Nationalspielers, freut sich schon auf die Fussball-EM und postet: „Alles für Deutschland.“ „Alles für Deutschland“ ist in Deutschland verboten und war die Losung der SA. Die SPD, erhitzt vom Wahlkampf, postet „Deutschland den Deutschen, die unsere Demokratie verteidigen“ und zieht ihren Post zurück – das Layout ist irritierend geschmacklos.
Nie wieder?
Am 19. April 1945, nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, veranstalteten die Überlebenden die erste Gedenkfeier für die Opfer des KZ. Sie errichteten ein provisorisches Mahnmal und gelobten den sogenannten Buchenwaldschwur: „Wir werden den Kampf erst aufgeben, wenn der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist. Die endgültige Zerschmetterung des Nationalsozialismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“ Sie schworen sich: „Nie wieder!“ bezogen auf den Faschismus.
Anfang der 1990er Jahre, als der faschistische Mob in Deutschland ungestört Flüchtlingswohnheime belagerte und Menschen anzündete, als es wieder schick wurde, Deutschlandfahnen zu schwenken und Menschen auf offener Straße gejagt wurden, besuchte ich mit einer Gruppenreise Buchenwald. Der Reiseleiter war Peter Gingold. Er war in Deutschland, Frankreich und Italien im Widerstand, ein überzeugter Kommunist und jüdisch. Nur wenige Minuten nach unserer Ankunft erhob ein Antifa-ler „im Spaß“ seine rechte Hand zum Hitlergruß, andere lachten. Gingold wies ihn zurecht und erteilte uns allen eine erste Lektion über Buchenwald, über die Shoa und über deutsche Späße.
In Buchenwald war damals auch ausgestellt, wie nach 1945 die Lebensbedingungen für inhaftierte Nazis unter der sowjetischen Besatzungsmacht aussahen. Ich erinnere mich an eine Schautafel, die die Klagen einer ehemaligen KZ-Wärterin beschrieb, sie klagte über Kopfläuse. Unweit davon war das Krematorium, darin die Hochleistungsöfen der Firma Topf & Söhne, die im Akkord Menschen verbrannten.
Nach der Wiedervereinigung stellten die Nachkommen der Firma einen Restitutionsantrag, um ihren „Familienbesitz“ wieder zu erlangen. Die Läusegeschichte, wie sie da in der Ausstellung hing, war ein unerträglicher Vergleich. Und ein Vorgeschmack auf neue, gesamtdeutsche Debatten über das Vergleichen-Können und Vergleichen-Dürfen. Damals hatte ich gerade die Schule verlassen und ich erinnere mich an Generationen von Schüler:innen, die angehalten waren, bei Schulexkursionen deutsche Kriegsgräber zu pflegen. Ein KZ hatten wir mit der Schule nie besucht.
Und „Jetzt“?
„Nie wieder ist jetzt!“, tönt es aktuell. Das ist gut, wenn es denn so ist. Das „Jetzt“ hat sich in der deutschen Zeitrechnung leider verspätet wie der Zug, der nie eintraf. „Nie wieder“ ist trotz einer Erinnerungskultur, auf die Deutschland sehr stolz ist, stets begleitet von einem „immer noch da“. Seit Jahrzehnten höre ich von bestens gebildeten Deutschen von links bis Oberkante rechts, wie gut Deutschland seine Geschichte aufarbeitet, „so im Vergleich zu anderen Ländern“. Auch so ein Vergleich, der vergleichsweise schräg daherkommt.
Ich erinnere mich an zahllose, private, berufliche und öffentliche Diskussionen darüber, wie marginal die AfD doch sei, eine Partei von Spinnern und Abgehängten. Selbst als sie in den Bundestag einzog, wurde sie klein geredet. Die AfD hat vor zwölf Jahren genauso gesprochen, wie heute.
Ich erinnere mich an die 1980er und 1990er Jahre, da hatten wir die Republikaner, die DVU, die NPD, die Schills und wie sie alle hießen. Auch damals zogen sie in die Gemeinderäte und Kreistage, sie bezogen Gelder und hatten eine laute, öffentliche Stimme, die die Grenzen des Sagbaren für uns alle nach rechts verschoben hatten. Ihre Plakate verpesteten die Umwelt und ihre Inhalte übertrugen sie auf alle bürgerlichen Parteien. Das Asylrecht wurde sukzessiv abgebaut und die Würde des nichtdeutschen Menschen mit Worten, mitunter auch mit Stiefeln getreten.
Müssten sich da nicht alle fragen: Wie viel Neofaschismus steckt in uns? Wie viel AfD steckt in einem Kanzler, der davon schwadroniert, dass „im großen Stil“ abgeschoben werden muss? Und dennoch, lieber jetzt als nie. Liebe Bündnisse, liebe Deutsche, die ihr keine Neofaschisten seid, bitte bleibt dran. Die AfD ist euer Problem, auch wenn es andere ausbaden.
Erinnern und Entnazifizieren?
Für kurze Zeit war der Dokumentarfilm „Nestwärme. Mein Opa, der Nationalsozialist, und ich“ von Eric Esser in der ARD-Mediathek zu sehen, und ich bin dankbar, ihn gesehen zu haben. Der Film gibt tiefe Einblicke davon, wie Erinnerungskultur aussehen kann, wenn sie an die eigene Haustür klopft. Er erklärt, warum es Befragungen gibt, bei denen über 30 Prozent der befragten Deutschen angeben, ihre Vorfahren seien Opfer vom Nationalsozialismus gewesen, während tatsächlich nur ca. 0,3 Prozent der Deutschen während der NS-Zeit im Widerstand waren oder Opfern der NS-Zeit geholfen haben.
Der Filmemacher geht der simplen Frage nach, ob sein Großvater ein Täter in der NS-Zeit war, oder nur ein Mitläufer oder gar ein kritischer Geist. Der Großvater trat spät in die NSDAP ein und war nie im Krieg, da er eine wichtige Funktion als Prokurist einer für den Krieg relevanten Firma innehatte. Um nach dem Krieg weiterarbeiten zu dürfen (später übernahm er auch die Leitung seiner Firma), musste er zunächst den Entnazifizierungs-Prozess durchlaufen. Esser bekommt Einsicht in die Akte und liest darin erstmalig, sein Großvater sei damals mit einer Halbjüdin verheiratet gewesen. Esser sieht nur zwei Möglichkeiten: entweder war die Großmutter tatsächlich Halbjüdin, das hofft er inständig bis zum Schluss seiner Recherche, oder der Großvater erfand sich unmittelbar nach der Shoa eine halbjüdische Frau, um sein Leben komfortabel weiter zu führen. So war es denn auch.
Das verrückte das Bild der eigenen Familie, die zum großen Teil in dieser Lüge kein Problem sah. Wie schäbig kann man sein, wenn man das Privileg hat, schäbig sein zu dürfen? Eine interviewte Historikerin sagt, es sei in diesem Fall schwierig festzustellen, ob der Großvater ein aktiver Täter war, ein Mitwisser sei er allemal gewesen. Und vor allem habe er seinen Wohlstand und den seiner Familie der NS-Zeit zu verdanken. Er hatte davon profitiert und ist beruflich aufgestiegen, in einer Firma, die wie fast alle damals, Zwangsarbeiter:innen ausbeutete.
Keine der Opfergruppen der NS-Zeit kann für das erfahrene Leid entschädigt werden, schon gar nicht davon profitieren. Ich erinnere mich an die vielen und konsequenten Abschiebungen von Roma-Familien, deren Vorfahren überwiegend in deutschen KZ ermordet wurden. Den Abschiebungen gingen Diskriminierungen voraus, im Herkunftsland und hier in Deutschland. Niemand wollte sich verantwortungsbewusst für das Schicksal dieser Menschen und unserer gemeinsamen Geschichte erinnern. Von einer Aufarbeitung, einem Erinnern und Entschädigungen für deutsche Verbrechen der Kolonialzeit und deutschen Bereicherungen durch sie ganz zu schweigen.
Tote Kinder
Vor zwei Tagen sprach ich mit einer jungen Deutschen, die nach Israel geht, um ein soziales Jahr zu absolvieren. Eine ehrenvolle Aufgabe. Wir sprachen über den 7. Oktober, die Brutalität der Hamas und den Krieg im Gaza und auch über die vielen getöteten Kinder, nach Schätzungen starben bereits über 10.000 Kinder. „Was will man machen“, meinte sie, „in 20 Jahren wären diese Kinder in der Lage, Israel anzugreifen“. Schweigen. Ich habe dieses Argument in den letzten Monaten öfters gehört, von eigentlich netten, guten Menschen. Ist das Töten von Kindern jetzt eine nachhaltige Lösung? Schummrig drängt sich mir ein Vergleich auf: „Was, wenn die Besatzungsmächte nach 1945 genauso gedacht hätten?“ Schweigen.
Deutschland scheint nicht in der Lage zu sein, tote Kinder aus aller Welt gleichermaßen zu bedauern. Aus welcher Gruft steigt diese Kälte? Opfer könne man nicht vergleichen, heißt es. Unsere Außenministerin gedachte diese Woche öffentlichkeitswirksam der 600 getöteten Kinder in der Ukraine. Sind tote Kinder nicht einfach gleich in ihrem Tot-Sein? Gleichermaßen unschuldig, ob im Mittelmeer, in Deutschland, im Gaza, in Israel, in der Ukraine oder in Somalia? Wo ist das Maßband, das wessen Menschenwürde misst?
Pietätloses Gezanke
Deutsche Antisemiten sind laut, auch wenn sie schweigen. Deutsche Universitäten laden leise jüdische Wissenschaftlerinnen aus, weil sie Kritik an Israels Politik äußern. Unbestritten gibt es seit Jahrhunderten Antisemitismus, hier und überall auf der Welt. Aber die Shoa kommt aus Deutschland. Und wenn hier bei seemoz gestritten wird, ob Al Husseini, der Großmufti von Palästina, ein Antisemit war und in welchem Ausmaß, und das unter einem Artikel, in dem Palästinenser:innen des Leides ihrer Nakba gedenken – dann ist das pietätloses Gezanke. Oder gründlich deutsches Spezialistentum? Das ist dieser Tage oft pietätlos, vor dem Hintergrund deutscher Verantwortung und dem aktuellen Leid im Gaza und in Israel.
Ja, der Großmufti war ein Täter und aktiver Judenhasser, er hat die Handschar-Division in Bosnien mit zu verantworten. Eine SS-Division, die in Mittenwald, wo noch heute Neonazis ihre Vergangenheit feiern, ausgebildet wurde. Und sicherlich hat er auch das Töten von Kindern zu verantworten. Wollen wir heute dafür seine Nachfahren aufsuchen und töten? Oder was bezweckt eine solche Debatte? Und wieder drängt sich mir ein Vergleich auf: 99,7 Prozent der deutschen Bevölkerung waren während der NS-Zeit Nazis und haben sich nachhaltig an dem Leid der Menschen bereichert. Nicht 99,7 Prozent der Palästinenser:innen oder bosnische Muslime waren Nazis und/oder haben sich dadurch bereichert.
Antisemitismus und Rassismus
Deutscher Antisemitismus wurzelt wie deutscher Rassismus in ähnlichen Strukturen. Wenn heute Deutsche, die zu einem Hubert Aiwanger stehen, selbstverständlich ihre eigene Geschichte kaschieren oder sich über die Umbenennung von Straßen, die Namen von Faschisten tragen, echauffieren, von einem „importierten Antisemitismus“ sprechen, wird mir speiübel: Das ist antisemitisch wie rassistisch. Ja, ich weiß, spätestens jetzt muss hier auch stehen: „aber die Hamas hat angefangen, aber, aber, aber …“
Kein Aber. Die Hamas ist eine durch und durch verbrecherische, faschistoide Organisation, und ihre menschenverachtenden Verbrechen sind durch nichts zu legitimieren. Und ja, Islamismus, Antisemitismus, Rassismus, religiöser und nationalistischer Extremismus sind globale Probleme. Alle verbindet die fanatische Annahme, bestimmte Menschengruppen seien minderwertig oder müssten gar vernichtet werden. Netanyahu folgt derselben Idee. Dieses Übel nicht benennen zu dürfen, folgt selbiger, extremer, da ethnisierender Logik. Alle palästinensischen oder gar alle arabischen Menschen als Terrorist:innen abzustempeln, schlägt in die gleiche Kerbe.
Gegen den Deutschlandblues gibt es keine Pillen. Wenn die deutsche Bigotterie um sich haut, hilft nix. Aber kleine Pausen davon tun gut. Also: Keine menschenverachtenden seemoz-Kommentare lesen, gutes, ausländischen Essen genießen, kanakische Musik laut hören, hoffen dass die Deutschen die EM nicht gewinnen, mit Herz und Verstand wählen gehen …
Text: Abla Chaya, Foto: privat, Instagram/SPD
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