Am 3. Mai zeigt die Universität im Astoria-Saal der VHS den Film „Leviathan“ (2014). Der mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnete Regisseur Andrej Zvyagintsev wird anwesend sein. Die Veranstaltung ist Teil des Seminars „Geflüchtete Kinder in Konstanz: Annäherung durch Film“.
„Was sind die Staaten ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden?“ Andrej Zvyagintsev zitiert mit dieser Frage Augustinus „Vom Gottesstaat“ in einem Interview mit „Russia Beyond the Headlines“ vom 1. November 2014 und erläutert: „Beides sind menschliche Gemeinschaften mit einem Anführer und fest geregelten Beziehungen. Sie unterscheiden sich nur durch die Rechtsordnung. Wenn das Rechtssystem in einem Staat nicht mehr funktioniert, dann wird der Staat zur Räuberbande. Nur wenn jeder Mensch das Recht hat, sich vor Gericht zu verteidigen, und nur wenn alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, ist das ein idealer Staat.“ (Das Interview finden Sie hier.)
„Alle Macht kommt von Gott. Und solange es dem Herrn beliebt, musst Du Dir um nichts Sorgen machen“, sagt der orthodoxe Bischof zum Bürgermeister der Stadt Pribreschny, nachdem er ihn aufgefordert hat, doch auch den Fisch zu probieren. Der Bürgermeister trinkt Wodka, leckt sich die fettigen Finger und antwortet: „Aber wer garantiert mir, dass es ihm beliebt? Bloß sein Diener!“ „Es beliebt ihm,“ antwortet der Geistliche, „es beliebt ihm.“
Die streng symmetrische Halbtotale zeigt den Bürgermeister an der linken, den Bischof an der rechten Seite des Tisches, hinter dem sich der Raum auf eine von Kristalllüstern flankierte Darstellung des Letzten Abendmahls öffnet. Die Bildlogik stützt die Aussage des Bischofs: die Machthaber der Gegenwart sitzen am selben Tisch wie die Apostel, und Christus bricht das Brot für sie. Diese Szene macht die Machtkonstellation, innerhalb deren sich die Filmhandlung bewegt, klar. Die Vertreter von Staat und Kirche berufen sich auf eine transzendente Instanz, einen unverrückbar abwesenden Sender als Herkunftsort aller Macht. Weil der Sender abwesend ist, kann man ihn nicht erreichen oder gar an ihn appellieren. Man kann mit ihm nicht verhandeln, ja, nicht einmal mit ihm kommunizieren. Die Kommunikation läuft über die „Diener“. Nur die „Diener“ geben Garantien. Aber eben nicht, das verlangt die Konstellation, aus eigener oder gar irgendwie weltlich legitimierter Machtfülle heraus, sondern immer im Verweis auf eine ewig abwesende Transzendenz, von der sie ihre Legitimation erhalten. Und diese müssen sie gar nicht belegen: Dass sie an der Macht sind, beweist ja, dass sie im Recht sind. Denn im Recht kann nur sein, wer von Gott die Macht hat. „Alle Macht kommt von Gott“, sagt der Bischof.
Zvyagintsev erzählt seine Geschichte als wuchtiges Drama politischer Theologie in der kargen archaischen Landschaft der arktischen Barentssee. Er dreht die philosophische Denkfigur des Staates als einer Vertragskonstruktion zur Verhinderung von Bürgerkrieg, die dem Wohle aller Beteiligten dient, um. Die Ursprungserzählung des Staats in der Tradition von Thomas Hobbes (1588-1679) besagt, dass Menschen egoistisch und gewalttätig sind. Nur wenn sie sich darauf einigen, das Recht auf individuelle Gewaltausübung an eine Zentralgewalt abzugeben, kann man den Krieg aller gegen alle verhindern. Diese Zentralgewalt ist der Staat, dem Hobbes den Namen des biblischen Seeungeheuers „Leviathan“ gibt: ein allmächtiges Wesen, das nur der Allmächtige, also Gott selbst, besiegen kann. Also niemand – denn Gott ist ja, das sagt der Bischof überdeutlich, gar nicht da. Er muss sich schon auf seine Dienerinnen und Diener verlassen, will er zur Existenz kommen.
So bleibt die sich selbst begründende, immer ferne Zentralgewalt, die nicht schützt, sondern die je lokale, konkrete Gewalt allererst begründet. Denn diese agiert niemals im eigenen Auftrag, sondern stets als Agent einer höheren, aber völlig ungreifbaren Macht. Auch dafür findet Zvyagintsev ein treffendes Bild: wieder einmal treffen sich der Bürgermeister und der Bischof. Wieder sitzen sie einander gegenüber. Wieder essen sie. Doch diesmal steht im Hintergrund ein leerer Bürostuhl vor einem Schreibtisch, der so lang ist wie eine Abendmahlstafel. „Hilf Dir selbst aus eigener Kraft“, sagt der Bischof.
Wer in die Fänge der sich zirkulär legitimierenden Staatsgewalt gerät, dem hilft niemand mehr. Das haben viele erfahren, die im Zentrum des Seminars, das Anlass für den Filmabend ist, stehen: Kinder auf der Flucht, die Schutzlosesten der Schutzlosen. Die Slavistin Maria Zhukova und der Slavist Innokentij Urupin überlegen, welche Handlungsmöglichkeiten, welche Selbstwirksamkeitserfahrungen diese Welt, diese Gesellschaft für diese Kinder hat. Wer auf der Flucht ist, der ist ungewollt – und zwar nicht nur dort, wo er oder sie herkommt. Sondern überall. Wie also ankommen – irgendwo? Wie ein neues Zuhause finden? Die Wette des Seminars ist, dass es die Kunst sein könnte, die Heimat schafft in einer unwirtlichen Welt. Vor allem die Musik und der Tanz machen Angebote, die noch vor jedem Spracherwerb sofort angenommen werden können.
Zwölf Studierende des Studiengangs Literatur-Kunst-Medien gehen dieser Frage im Seminar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch nach. Sie besuchen Tanzgruppen, Ballettschulen, Gitarrengruppen – auch der Sport kann Integrationsmedium sein. Ein Fußballverein vielleicht. Maria Zhukova sagt mir im Gespräch, dass die Suche nach Kooperationspartnern noch nicht abgeschlossen ist. Mit der Kamera werden die Studierenden die geflüchteten Kinder begleiten und so erfahren, wie man im Bauch des Leviathans überlebt.
Andrej Zvyagintsev wird die Studierenden unterstützen durch einen Workshop zum Filmemachen. Dabei geht es natürlich um praktische Tipps und Erfahrungen einerseits. Andererseits geht es aber auch darum, wie man Kinder im Film darstellt. Wie findet man Bilder für Leid und Sehnsucht, für all den Schmerz und all die Hoffnung, die sich der Versprachlichung weitgehend entziehen? Zvyagintsev ist ein Spezialist für ein visuelles Erzählen, das kaum Sprache benötigt, um seine Botschaft zu vermitteln. Er lebt inzwischen in Frankreich, spricht allerdings kein Französisch und sagt von sich, auch er könne ein bisschen Integration gut brauchen.
„Leviathan“ (2014), Filmvorführung und Gespräch mit Andrej Zvyagintsev, moderiert von Maria Zhukova und Innokentij Urupin, am 3. Mai um 18:30 Uhr im Astoria-Saal der Volkshochschule Konstanz, Katzgasse 7, Eintritt frei.
Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Pressefotos
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