Sahra Wagenknecht Aschermittwoch In Passau Screenshot Youtube

„Ein Produkt des politischen Feudalismus“

Sahra Wagenknecht Aschermittwoch In Passau Screenshot Youtube

Welche politische Kraft steckt im Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)? Wofür setzt es sich ein? Oder konzentriert sich die Partei der ehemaligen Linken auf ihre Rolle als populistische Stimmenfängerin? Ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler, Wahlforscher und Publizisten Horst Kahrs in zwei Teilen.

seemoz: Nach Ihrem Verständnis von den Eigenschaften eines vielversprechenden Politikers, einer vielversprechenden Politikerin: Über welche verfügt Sahra Wagenknecht, und über welche nicht? Kann sie beispielsweise eine Partei mit unterschiedlichen Strömungen zusammenhalten?

Horst Kahrs: Sie kann öffentlich verständlich sprechen, vor allem aber so sprechen, dass sich Menschenansammlungen, zu denen sie spricht, zu einer politischen Masse formieren, sich als politische Kraft erfahren können. Neudeutsch: Ihre Veranstaltungen sind ein politisches Event. Sie ist klug; sie weiß, was sie tut. Und einiges mehr, was ja von anderen schon zurecht aufgezählt worden ist. Und worüber sie nicht verfügt, sagt sie ja selbst: Organisationsfähigkeit, Führungsfähigkeit abseits der Bühne.

Wie kann präziser als mit dem Begriff „Politikerin“ beschrieben werden, was Frau Wagenknecht ist und treibt?

Horst Kahrs: Frau Wagenknecht ist eine politische Polarisierungsunternehmerin. Übrigens: Sie ist damit nichts Besonderes, sondern nur eine von vielen, die unsere und auch andere nichtautoritär verfasste Gesellschaften hervorgebracht haben. Ihr Pfund ist ihre öffentlich und medial inszenierte Persönlichkeit. Davon lebt auch die von ihr gegründete Partei, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Ohne sie würde es diese Partei gar nicht geben.

Welche Folgen hat das für die Partei?

Horst Kahrs: Einschneidende. Denn daraus folgt vor allem: Sie und ihre dominierende Rolle dürfen nicht in Frage gestellt werden. Beides ist elementar: Wer sie in Frage stellt oder nur kritisiert oder wer allein nur ihre Dominanz in Frage stellt, der übt nicht nur Kritik, der stellt zwangsläufig diese Partei in Frage. Konkret: Diese Partei ist ein Produkt des politischem Feudalismus und hat damit zumindest in Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal. Deshalb verlief der Gründungsparteitag so debatten- und antragsfrei. Er konnte gar nicht anders über die Bühne gehen. Sahra Wagenknecht und ihre AnhängerInnen müssen auch vermeiden, dass sie beispielsweise aufgrund der Übernahme eines Amts realpolitische Blessuren erleidet. Denn allein das würde ihre Anführerinnen-Rolle gefährden.

Welches Verständnis hat Wagenknecht von ihrer Partei? Ist das für sie, die auch als beratungsresistent gilt, eine Art fremdes Wesen?

Horst Kahrs: Ich denke, sie versteht ihre Partei als eine Art handverlesenes Zentrum einer Bewegung, die in die Gänge kommen soll, nicht als Mitmach-, eher als eine Kader-Partei. Deshalb stellt sich die Frage, ob sie ein Ministerium führen könnte, gar nicht. Natürlich würde sie auch das — begleitet von den richtigen kompetenten StaatssekretärInnen — irgendwie über die Bühne bringen. Aber um den Preis jener Blessuren, die sie sich eben gar nicht leisten kann. Um ein anderes Bild zu bemühen: Sie ist die politische Fahnenträgerin, hinter der sich alle versammeln. Insofern ist das BSW – ihr Name ist das Programm — für deutsche Verhältnisse eine politische Neuerung. Mal abgesehen von dem bereits gescheiterten Team Todenhöfer.

Was bisher geschehen ist: Ist das eine Spaltung der Linkspartei? Oder war und ist es nur eine Abspaltung einer medial zwar einflussreichen, aber kleinen Minderheit?

Horst Kahrs: Im Kern trennen sich wieder diejenigen von der Partei Die Linke, die von der SPD über die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit WASG (2005_2007) zur Partei des Demokratischen Sozialismus PDS (1990–2007) gekommen waren. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Und vieles von dem, was von dieser neuen Partei zu hören ist, knüpft ja an sozialdemokratische Leitbilder der 1970er Jahre an. Etwa wenn etwas romantisch an die Friedenspolitik von Willy Brandt angeknüpft wird.

Romantisch?

Als romantisch werte ich das, weil wohlweislich verschwiegen wird, dass unter den Brandt-Regierungen die Verteidigungsausgaben in einer Höhe von vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes lagen, und natürlich war es damals verboten, technisch hochwertige Wirtschaftsgüter in den sogenannten Ostblock zu verkaufen. Also viel geschönte Erinnerung.

Dazu gehört auch das Wagenknecht‘sche Revival der ordoliberal grundierten „Sozialen Marktwirtschaft“ sowie die Stärkung der nationalstaatlichen Souveränität gegenüber den USA und der EU. Das alles ist nicht neu und hatte auch mal Platz in der deutschen Sozialdemokratie. So schwebt über allem irgendwie und irgendwo auch der große alte Lafo: Nachdem es Oskar Lafontaine nicht gelang, eine Linkspartei nach seinem Ideal zu formen, startet nun ein nächster Versuch… .

Wie könnte die Linkspartei jetzt agieren, um aus der neuen Situation etwas Positives für sich zu machen? Was unbedingt tun, was unbedingt lassen?

Horst Kahrs: Zunächst einmal muss sie bei den Wahlen in diesem Jahr sich selbst und ihren potenziellen Wählerinnen und Wählern beweisen, dass sie eine Zukunft hat und nicht weiter zerbröselt. Dann hat sie die Chance, linke, demokratisch-emanzipatorische Politik neu zu „erfinden“, wie es gerne heißt.

Klingt vielversprechend nach politischem Start-up: neues Produkt. Und was heißt das konkret?

Horst Kahrs: Erst einmal bedeutet es, etwas Negatives zu akzeptieren. Es ist ja offensichtlich, dass die bisherigen Konzepte und Strategien nicht erfolgreich waren, um nicht zu sagen: sie sind gescheitert. Wichtig dabei ist die Erkenntnis: Die Linke hat zu lange geglaubt, dass materielle Fragen, Verteilungsfragen alles entscheidend oder auch nur entscheidend seien. Sie sind es aber nur im Zusammenhang mit anderen ausschlaggebenden Fragen. Beispielsweise dem Aspekt der Anerkennung, des Respekts. Die Gesellschaft muss klären: Was steht wem zu? Welche Ansprüche kann wer legitim stellen? Was ist legitime Ungleichheit und welche ist illegitim? Eine demokratisch-emanzipative Linke muss diese Fragen in den Mittelpunkt ihrer Politik rücken.

Ein Beispiel bitte.

Horst Kahrs: Um bei den Pandemie-Erfahrungen zu bleiben: Wer die absolut notwendigen Abläufe des Ladens am Laufen hält — ich denke hier unter anderem an die Pflegekräfte, an die Beschäftigten in öffentlichen Gesundheitsämtern —, auf welchen Status, materiell wie immateriell, haben sie Ansprüche in dieser Gesellschaft? Und haben sie bereits den Status, den sie verdienen, oder haben sie ihn nicht? Auch im Vergleich zu anderen Berufsgruppen. Das ist eine fundamentale politische Debatte, welche die Linkspartei betreiben muss. Und zweitens müsste eine in meinem Sinne neue Linke eine politische Analyse vorlegen, die klärt: Mit wem arbeiten wir zusammen, mit wem nicht und wer sind unsere Gegner, also wen bekämpfen wir. Je präziser dies definiert wird, desto politisch brisanter wird die Sache.

Und wo verlaufen die Fronten?

Horst Kahrs: Für mich verläuft in Gesellschaft, Gewerkschaften und Unternehmerschaft eine entscheidende Front so: Wer ist national wie global dafür, die Wirtschaft so schnell zu dekarbonisieren, dass die Zeitpläne des Pariser Abkommens eingehalten werden können? Mit all denen arbeitet die künftige Linkspartei zusammen. Und ihre Gegner sind diejenigen, die dieses Ziel nicht teilen oder sogar noch möglichst lange an der fossilistischen Produktions- und Konsumweise festhalten wollen.

Konkret: Künftige Partner und künftige Gegner können sowohl in Konzernzentralen wie in Gewerkschaftsvorständen sitzen. Noch konkreter: Der Vorstand der Industriegewerkschaft BCE (Bergbau, Chemie, Energie) könnte Gegner, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Telekom könnte Bündnispartner sein. Nur so als Beispiel, um den politischen Kreislauf ein bisschen anzuregen. Diese Trennlinie zwischen Fossilisten und Postfossilisten sollte eine neue Linke zur Scheidelinie zwischen „potenziellem Partner“ und „Gegner“ stark machen. Diese neue Linkspartei positioniert sich damit im Rahmen eines planetaren Paradigmas. Das heißt auch: Wie in der EU die Unternehmen produzieren, diese Frage hat mindestens denselben Stellenwert wie die Klärung der sozialen Frage in Deutschland. Sich wie bisher vor allem auf das Soziale zu konzentrieren, ist zum Scheitern verurteilt.

Im zweiten Teil des Gesprächs geht es um Perspektiven für die Partei Die Linke und darum, wem die neue Partei BSW nützt. Und wem sie schadet.  Er erscheint morgen auf seemoz 

Interview: Wolfgang Storz. Das ungekürzte Gespräch ist auf Bruchstücke zu finden, dem „Blog für konstruktive Radikalität“
Bilder: Screenshots von der BSW-Website und Youtube-Videos. Foto Kahrs: privat


Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler, Wahlforscher und Publizist. Von 1995 bis 2021 arbeitete er in verschiedenen Funktionen für die PDS, Die Linke und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Heute betreibt er mit Tom Strohschneider den Blog „linksdings – Der Schlüssel steckt von innen“ /

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