Am Samstag erinnerten rund 120 Menschen auf dem Konstanzer Münsterplatz an die aktuelle Katastrophe in Gaza – und protestierten gegen die Regierung eines Landes, das im vergangenen Jahrhundert für zwei Völkermorde verantwortlich war. Und jetzt wegsieht.
Eine so einfache wie ausdrucksstarke Openair-Ausstellung war in Konstanz schon lange nicht mehr zu sehen: Gummistiefel, Sneakers, Wanderschuhe, Sandalen, Slipper reihten sich paarweise aneinander, viele davon in Kindergröße, manche mit einer Blume versehen, dahinter ein kleines Pappschild. „11.000 Kinder bislang getötet“, hatte jemand darauf geschrieben. So eindrucksvoll lässt sich zeigen, wie horrend hoch die Zahl der Menschen ist, die bisher den israelischen Angriffen im Gazastreifen zum Opfer gefallen sind.
Für Konstanzer Verhältnisse beachtlich war auch die Zahl der Menschen, die dem Aufruf des Aktionsbündnisses „Rettet Gaza“ gefolgt waren und sich am frühen Samstagnachmittag vor dem Münster versammelten. Sie alle einte die Trauer um die vielen Toten, das Entsetzen über das humanitäre Desaster und die Sorge vor einer Eskalation – die Lage im Gazastreifen spitzt sich immer weiter zu. Spürbar war auch die Betroffenheit (und zum Teil Empörung) darüber, dass von der deutschen Regierung nichts unternommen wird.
Bald eine halbe Million?
Dies brachte gleich zu Beginn Vincent Trötschel zum Ausdruck, Mitorganisator der Mahnwache für einen Waffenstillstand im Gaza. Er erinnerte daran, dass der Internationale Gerichtshof in einem vorläufigen Urteil am 26. Januar Israel zwar nicht angewiesen hat, den Militäreinsatz zu beenden, den von Südafrika erhobenen Vorwurf des Völkermords aber auch nicht verwarf; es bestehe die Gefahr eines Völkermords im Gazastreifen, stellte das Gericht in Den Haag fest.
„Israel verletzt mithin die Genozid-Konvention“, sagte Trötschel, der gleich zu Beginn seiner Rede – unter Beifall – darauf hinwies, dass Antisemitismus auf der Veranstaltung nicht geduldet werde („man darf Jüdinnen und Juden nicht verantwortlich machen für die Verbrechen, die Israel begeht“). Er fügte hinzu, dass anders als in anderen Teilen Europas hierzulande wenig Kritik an Israels Politik zu hören sei: „In Deutschland scheint es ein Klima der Angst zu geben. Und kein Mitgefühl für das Leid der Palästinenser:innen.“
Und nicht nur das. Obwohl Expert:innen davor warnen, dass innerhalb eines Jahres ein Viertel der Gaza-Bevölkerung an Hunger und Krankheiten sterben könnte, habe Deutschland nun auch noch die Zahlungen an das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) gestrichen (weil sich, so israelische Angaben, einige der Angestellten dieser großen Organisation an den Massakern der Hamas am 7. Oktober beteiligt haben sollen). Damit, so Trötschel, „kappt die Bundesregierung in der Katastrophe die letzte Rettungsleine – und das, ohne Untersuchungen der Vorwürfe abzuwarten“. Deren Handlungen, so sein Fazit, „scheinen nicht primär von einer besonderen Verantwortung jüdischen Lebens gegenüber bestimmt zu sein, sondern von einer Geringschätzung palästinensischen Lebens“.
Die Hölle auf Erden
Hart ins Gericht mit der deutschen Außenpolitik ging auch Ario Mansour, der von der großen Hoffnung erzählte, die er hegte, „als weltweit viele Menschen zusammenstanden und beim Kampf für die Rechte der Frauen im Iran mit all jenen solidarisch waren, die keine Stimme haben und nicht gehört werden, systematisch unterdrückt und entmenschlicht werden“. Es war „die Hoffnung, dass die Menschheit in destruktiven Zeiten zueinander steht.“
Umso fassungsloser sei er heute angesichts der Politik der rechtsextremen israelischen Regierung, die gezielt ausgrenze, unterdrücke, deklassiere und den Menschen im Gaza „jede Lebensgrundlage entzieht“. Über 24.000 „unschuldige Seelen“ seien bisher vernichtet worden. Und wofür? Gewalt als Antwort auf Gewalt führe nur in eine Spirale des Todes, zur brutalen Zerstörung jedweder Hoffnung.
Besonders erschüttert habe ihn die Haltung „meiner Mitmenschen und meiner Regierung“, die einfach hinnehme, dass die Angriffe fortgesetzt werden, dass sich seit dem blutigen Angriff der Hamas die Hölle geöffnet habe und dass die israelische Regierung „mit ihrer Siedlungspolitik systematisch gegen geltendes Recht verstößt“. Warum, so fragte er, „ist Deutschland, meine Heimat, so still?“
23 Tote in einer Familie
„Die letzten Monate haben uns die Augen geöffnet, welch großes Privileg es ist, dass wir in Frieden leben, studieren und uns weiterbilden dürfen“, sagte danach Samet Taşkin von der Muslimischen Hochschulgruppe. Das sei im Gazastreifen jedoch nicht möglich; dort sind seit Beginn des Kriegs alle Schulen geschlossen. Den Menschen werde somit „nicht nur die Chance auf Bildung, sondern auf ein friedliches Leben ohne Konflikte und Ungerechtigkeit blockiert“.
Die Angriffe der israelischen Armee treffen auch Mitglieder der Konstanzer Hochschulgruppe, berichtete Taşkin: „Erst vor kurzem hat uns ein Bruder mitgeteilt, dass er in einer Nacht 23 Familienmitglieder verloren hat.“ Das habe sie alle stark mitgenommen, sagte er. Und forderte wie alle anderen Redner:innen einen sofortigen Waffenstillstand.
Anschließend verlas Najwa Juma aus Palästina unzählige Namen – Namen von Familienmitgliedern aus ihrer Nachbarschaft, die in den ersten Wochen umgekommen sind; Namen von Eltern und Schüler:innen ihrer Schule, die im ersten Monat den israelischen Angriffen zum Opfer gefallen waren; Namen, die nie wieder zu hören sein werden. Und für eine beklemmende Stille sorgten.
Danach informierte Manuel Oestringer vom Aktionsbündnis über die politische Lage, die im ganzen Nahen Osten zunehmend kritischer werde. Die US-amerikanischen und britischen Luftangriffe auf jemenitische Huthi-Rebellen, die seit längerem Frachtschiffe im Roten Meer beschießen; die jüngsten Militärschläge der USA auf Stellungen von pro-iranischen Milizen im Irak und in Syrien; die wachsenden Spannungen mit dem iranischen Regime und die offene Frage, wie lange sich die libanesische Hisbollah noch zurückhält – der Krieg in Gaza und der Westbank habe „an zahlreichen Fronten ein riesiges Eskalationspotenzial“.
Es sei gut möglich, so Oestringer, dass sich der Gewaltkonflikt zum „bisher größten Krieg des 21. Jahrhunderts“ entwickelt. Durchaus möglich ist daher auch, dass die Regierungen in Berlin und Washington bald bereuen werden, so lange geschwiegen und Isreal nicht gestoppt zu haben.
Text und Fotos: Pit Wuhrer
Schreiben Sie einen Kommentar