In „Konstanz literarisch“ ist Manfred Bosch der kulturellen Tradition der Stadt über fünf Jahrhunderte hinweg nachgegangen. Seemoz porträtiert in lockerer Folge einige der dort vorgestellten Personen. Im Vordergrund stehen freiheitliche, demokratische und antifaschistische Traditionslinien im 19. und 20. Jahrhundert. Kompromisslose Zivilcourage bewiesen Hans und Hermann Venedey.
Die beiden Brüder Hans und Hermann Venedey wuchsen in der Tradition einer jakobinisch- radikaldemokratischen Familie auf. Begründet hatte sie ihr Großvater Jakob Venedey (1805–1871), Privatgelehrter und Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Jakobs Sohn Martin Venedey war Rechtsanwalt, Abgeordneter der Badischen Zweiten Kammer und seit 1924 Vorsitzender der Konstanzer Sektion der Republikschutzorganisation „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Nach Norbert Jacques verkörperte er das Urbild eines „deutschen Mannes“, an dem sich „alles erhalten hatte, was einen Süddeutschen ausmachte, bevor der preußische Erfolgseinfluss ihm die Seele zu fälschen unternahm“.(1) Auch die Söhne Hans und Hermann traten in seine Spuren.
Hans Venedey – engagierter Jurist und Politiker
Hans Venedey (1902–1969) studierte Jura und trat, eingedenk der Rolle seines Großvaters Jakob in den Deutschen Burschenschaften, der Freiburger „Alemannia“ bei. Als 1925 ein Konvent von ihm verlangte, sich dem Entschluss der Unvereinbarkeit gleichzeitiger Mitgliedschaft bei Burschenschaft und Reichsbanner zu beugen, entschied er sich, nicht anders als sein Bruder Hermann, ohne langes Bedenken für Demokratie und Republik.
Unbeugsamer SPD-Gemeinderat in der Weimarer Republik
Inzwischen als Strafverteidiger und Sozius in der väterlichen Anwaltspraxis etabliert, gehörte er seit 1929 der SPD-Fraktion im Konstanzer Gemeinderat an. Als am 6. März 1933 auf dem Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst wurde, bezeichnete Hans Venedey diese in einem Schreiben an den parteilosen Oberbürgermeister Otto Moericke als ein Kampfsymbol, das „sich in schärfster Form gegen alle Staatsbürger (richtet), die der NSDAP nicht angehören, insbesondere aber gegen alle Republikaner, die in der Stadt Konstanz immerhin noch die Mehrheit bilden. In der Hissung der nationalsozialistischen Fahne liegt eine Herausforderung aller freiheitlich gesinnten Staatsbürger und eine Kränkung unserer jüdischen Mitbürger, da die Fahne das Zeichen des Antisemitismus, das Hakenkreuz, enthält.“(2)
Obschon die Hakenkreuzfahne alsbald wieder vom Dach geholt wurde und diese laut einer Verfügung des Reichspräsidenten Hindenburg vorläufig nur zusammen mit der schwarz-weiß-roten Reichsflagge gehisst werden sollte, wurde Venedey unmittelbar nach seinem Protest kurzfristig in „Schutzhaft“ genommen.
Flucht und Einsatz für jüdische Emigranten
Als er im Juli 1933 von seiner unmittelbar bevorstehenden erneuten Festnahme erfuhr, entzog er sich ihr durch Flucht in die Schweiz. 1936 arbeitete er in Paris als Sekretär für die „Commission consultative pour les Réfugiés provenant d’Allemagne“, die sich für die Rechte deutscher Emigranten einsetzte; zudem betätigte er sich bei der jüdischen Hilfsorganisation „Hebrew Immigrant Colonization Emigration“, die Schiffspassagen jüdischer Flüchtlinge nach Palästina und Südamerika organisierte. Kurz vor Kriegsbeginn heiratete Hans Venedey seine langjährige Schweizer Freundin Leni Frei, bevor er nach der Niederlage Frankreichs wie alle Deutschen interniert wurde. Aus einem dieser Lager konnte Venedey entkommen; über Lyon floh er 1942 mit Unterstützung von Fluchthelfern wieder in die Schweiz, wo er in Genf und in Zürich-Seebach erneut interniert wurde.
Engagement gegen Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung
Nach Kriegsende konnte Hans Venedey endlich nach Deutschland zurückkehren. In Konstanz wurde er wieder als Rechtsanwalt zugelassen und fast zeitgleich durch die US-Militärregierung zum hessischen Innenminister ernannt. Von Wiesbaden aus arbeitete er an der hessischen Verfassung wie auch am Aufbau der Verwaltung mit, verlor jedoch nicht nur sein Ministeramt nach zehn Monaten, weil er sich entgegen dem Kurs Kurt Schumachers nachdrücklich für eine Vereinigung von SPD und KPD ausgesprochen hatte, sondern wurde auch aus der SPD ausgeschlossen. In den fünfziger Jahren engagierte er sich in Konstanz gemeinsam mit seinem Bruder Hermann gegen die Wiederbewaffnung und unterzeichnete mit diesem das „Konstanzer Manifest“ gegen atomare Aufrüstung der Bundeswehr. Beim Landesamt für Wiedergutmachung, wo man ihm vorwarf, ein Feind der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu sein, musste er bis 1959 für seine Ansprüche kämpfen. Seine Kanzlei führte er bis in sein Todesjahr 1969.
Hermann Venedey – demokratischer Pädagoge mit Rückgrat
Hermann Venedey (1904–1980) war noch in seinem Geburtsort Zürich eingeschult worden und erlebte – geprägt durch die Erfahrung freierer Schulverhältnisse in der Schweiz – als Sextaner im Konstanzer Gymnasium den grassierenden Hurra-Patriotismus mit Befremden. Mit leichter Auffassungsgabe ausgestattet, studierte er seit 1923 mit breiten Interessen in Freiburg und Wien Geschichte, Germanistik und Romanistik; das Thema seiner 1927 abgeschlossenen Promotion lautete „Jakob Venedey. Darstellung seines Lebens und seiner politischen Entwicklung bis zur Auflösung der ersten deutschen Nationalversammlung 1849“. Nach verschiedenen Assessoraten führte sein Weg 1932 ans Konstanzer Gymnasium. Wie sein Bruder Hans protestierte auch er 1933 gegen das Hissen der Hakenkreuzflagge auf seiner Schule, an der weiterhin Dienst zu tun er sich weigerte: Er hatte seinen Eid auf die Weimarer Verfassung geleistet und verstand sich als „unbeugsam in der Wahrung dessen, was ich als recht und moralisch gültig ansah“.
Abrechnung mit opportunistischen Maulhelden
In seinen ungedruckten Erinnerungen rechnete Hermann Venedey mit Blick auf die Durchführung einer Feier der „nationalen Revolution“ scharf mit dem Verhalten seiner Kollegen ab: „Hier pochte wirklich ein riesenhaftes politisches Ereignis an die Türe, das – so schien mir – von jedem eine persönliche Entscheidung forderte. Sie saßen doch alle auf hohem moralischem Roß, nannten den kleinen Häscher, den sie auf einer lächerlichen Lüge ertappten, einen Lügner und ermahnten ihn zur Wahrhaftigkeit. Sie nannten ihn einen Verbrecher, wenn er in seines Herzens Angst oder aus Scham statt seines Vaters eine schlechte Arbeit oder gar ein Zeugnis selber unterschrieb. Sie sahen ihn in der Strafanstalt enden, wenn er – ohne recht den strafrechtlichen Begriff des Diebstahls zu kennen – Mein und Dein verwechselt hatte. Sie hatten mit geschwellter Brust so oft von den erhabenen Vorbildern der Antike gesprochen – nun saßen sie stumm und etwas verlegen da und ihr Ratschlag ging in dieser wirklich historischen Stunde einzig um die Frage, wann mit der Feier zu beginnen sei. So also sah es aus mit den deutschen Akademikern und der charakterbildenden Segnung des humanistischen Gymnasiums, Maulhelden waren sie ohne Rückgrat und der ‚menschenbildende Humanismus‘ nichts anderes als rasch abbröckelnde Tünche.“(3)
Karge Jahre im Schweizer Exil
Im selben Jahr 1933 verließ Hermann Venedey die Schule und entschied sich mit seiner jungen Familie für das Schweizer Exil. In Basel wollte er„auf jede honorige Weise“ sein Glück versuchen. Es wurden zwölf karge Jahre, in denen er die längste Zeit seine Bemühungen um Weiterreise in Drittländer nachweisen musste, bevor er nach Tätigkeiten als Journalist, Hilfsangestellter der Universitätsbibliothek und Korrektor im Verlag Schwabe wieder in den badischen Schuldienst zurückkehren konnte.
Rückkehr nach Konstanz
Es war eine Rückkehr auf eigenes Betreiben, wie man Emigranten generell kaum einmal zurückrief – doch Venedey, einer der ganz wenigen unbelasteten Lehrer, wurde keineswegs mit offenen Armen aufgenommen, sondern musste bitter empfundene Brüskierungen hinnehmen.
Zunächst wurde ihm die Leitung der Radolfzeller Realschule übertragen; 1948 wurde er in Konstanz Direktor der Mädchen Oberrealschule (heute Ellenrieder-Gymnasium) und im Jahr darauf Oberstudiendirektor an der alten Zeppelin-Oberrealschule, die auf seine Initiative hin in Alexander-von-Humboldt-Gymnasium umbenannt wurde. Dort wirkte bis zu seiner Pensionierung 1969.
Hermann Venedeys zweite Lebensphase war durch eine Vielzahl öffentlicher Positionen ausgefüllt; so zählte er zu den Gründern der örtlichen Volkshochschule und gehörte der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ sowie dem Ehrenpräsidium des „Deutschen Kulturbundes“ an und saß für die DVP von 1950–52 im Kreisrat. Vor allem in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten arbeitete Venedey auch schriftstellerisch, übersetzte Titel aus der Dritten Welt, legte 1973 eine Geschichte des Kreuzlinger Emigrantenverlags Belle-Vue vor und hinterließ bei seinem Tod im Jahre 1980 ungedruckte Erinnerungen.
Stolpersteine für Hans und Hermann Venedey
An den Orten, die sich mit dem Widerstand der beiden Brüder in besonderer Weise verbinden, wurden Stolpersteine verlegt: für Hans Venedey 2012 im Innenhof des Konstanzer Rathauses; für Hermann Venedey, an den auch ein Weg im Klosterkasernenviertel erinnert, 2011 auf dem Gelände des Suso-Gymnasiums.
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1) Norbert Jacques, Mit Lust gelebt. Erweiterte Neuausgabe St. Ingbert 2004, S. 86.
2) Zitiert nach Uwe Brügmann, Hans Jakob Venedey auf der Website Stolpersteine Konstanz, www.stolpersteine-konstanz.de/venedey_hans.html und www.stolpersteine-konstanz.de/venedey_hermann.html
3) Hermann Venedey, „Unbeugsam in der Wahrung dessen, was ich als recht ansah…“, in Allmende. Eine alemannische Zeitschrift 5 (1985) H. 10, S. 29.
Text: Manfred Bosch
Weitere Informationen
Zum Autor
Manfred Bosch lebt als Schriftsteller, Literaturhistoriker und Herausgeber in Konstanz. Neben zahlreichen Darstellungen zur südwestdeutschen Zeit- und Literaturgeschichte widmet er sich in Darstellungen (u.a. Bohème am Bodensee. Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil 1997), Herausgaben und Anthologien der neueren Literaturgeschichte des Bodenseeraums.
Zum Buch
Manfred Bosch, Konstanz literarisch. Versuch einer Topografie, UVK Verlag 2019, 351 Seiten, €22,00.
Manfred Boschs literarischer Streifzug durch Konstanz vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ist nicht wie bei Darstellungen dieser Art üblich chronologisch oder nach sachbestimmten Aspekten angeordnet. Sein Stadtrundgang beginnt alphabetisch in der „Alfred Wachtel-Straße“ und endet „Zur Friedrichshöhe“. Er nimmt Straßen, Plätze und Gebäude in den Blick, erzählt welche LiteratInnen, PublizistInnen, VerlegerInnen, Kulturschaffende hier gelebt haben oder als Reisende – sei es als Gast oder auf dem Weg ins Exil – die Stadt passiert haben. Er beschreibt geschichtsträchtige Orte wie das ehemalige Dominikanerkloster (Inselhotel), den Kreuzlinger Zoll, die in den 1960er-Jahren gegründete Universität und bietet einen Überblick über Verlage, Bibliotheken, Lesegesellschaften, Theater und Pressewesen der Stadt. Über 600 Namen umfasst allein das Personenregister.
Erschienen ist das Buch in der von Jürgen Klöckler herausgegebenen „Kleinen Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz“.
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